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Sie werden mich verurteilen.

Viele der ersten Stunden dieses Jahres verbrachte ich auf der Notaufnahme. Ein Freund hatte nach längerer Abstinenz einen Rückfall erlitten. Nun bestand Lebensgefahr. Das Krankenhauspersonal erkannte sofort meine beruhigende Wirkung auf den Patienten und wollte, dass „Pastor Markos“ – als solcher werde ich jetzt offiziell in der Krankenakte geführt – bei sämtlichen Untersuchungen und Maßnahmen ununterbrochenen Blickkontakt mit dem Patienten halte. Zum Glück habe ich jahrelang auf Intensivstationen und in OP-Sälen gearbeitet, so dass ich teilweise sogar etwas mit zur Hand gehen konnte. Mein Freund überlebte und ist auf einem guten Weg der Besserung. Täglich besuche ich ihn.

Eines unserer neulichen Gespräche neulich machte mich besonders nachdenklich. Er sagte, dass die Leute ihn für das Geschehene verurteilen werden. Er kenne das gut. Verurteilung geschieht heutzutage nicht mehr durch öffentliche Steinigungen und auch selten mit offenen Worten. Meistens verurteilt man durch Gesten und das, was man nicht tut bzw. nicht sagt. Man fühlt sich als Außenseiter. Und so kamen wir darauf zu sprechen, wer gerne wen und warum verurteilt und wer eigentlich das Recht dazu hat.

Jemand, der selbst einen Rückfall erlitten hat, würde niemals einen anderen verurteilen, dem das Gleiche passiert. Er oder sie weiß nämlich genau, wie stark die Kräfte sind, die hier wirken. Er kennt die Strudel, in denen man hilflos taumelt, die Gefühle, die nach unten ziehen. Wie könnte man einen Mitmenschen verurteilen, der ebenso machtlos trudelt?! Allein der Gedanke ist absurd. Verurteilen tun nur die, die nie rückfällig wurden, niemals abhängig waren, die Fratze der Droge nie selbst gesehen haben.

So ist es nicht nur bei Problemen mit Abhängigkeit. Sexuelle Vergehen zum Beispiel. Nach wie vor ganz weit oben stehend auf der Liste der am meisten verurteilten Sünden. Ohne die Folgenschwere gewisser Handlungen hier zu beschönigen: Wer je der Versuchung ins Auge sah, es wahrscheinlich sogar regelmäßig muss, wer obendrein vielleicht von ihr besiegt wurde, ist in der Regel gnädiger mit anderen, denen es ähnlich ergeht oder ergangen ist. Er oder sie ist nämlich vertraut mit diesem komplizierten extern-intern-Kraft-Schwäche-Verhältnis. Wie ein Psychologe einmal treffend sagte: „Vieles, was als ‚Treue‘ gelobt wird, ist in Wahrheit nur der Mangel an Gelegenheiten. Wahre Treue beweist sich erst, wenn’s drauf ankommt.“ Doch auch Ehebrecher werden am liebsten von jenen verurteilt, denen sich nie die Chance anbot, mit jemand anders zu schlafen als dem richtigen Partner. Da lässt sich leicht die Nase heben. (Vielleicht aber auch nur, um den insgeheim innewohnenden Neid zu verstecken.)

Homosexualität ist ein ähnliches, aber ganz besonders heißes Eisen. Wer das seelische Empfinden dieser Menschen nicht versteht, hat leicht reden. Deswegen wird Homosexualität wohl auch am meisten dort verurteilt, wo sie am allerwenigsten vorkommt, oder sagen wir lieber vorkommen darf: In frommen Kreisen. So gut und wichtig es ist, die hohen Standards und Werte Gottes zu vertreten und zu verteidigen, so wenig darf man bei diesem Thema gleich an Sodom und Gomorra denken, an Loveparade und Sündenpfuhl. Es geht hier schließlich um empfindsame, verletzliche und von Gott geliebte Seelen. Werte schützen und verteidigen ist etwas völlig anderes als Menschen verurteilen. Es gibt mit größter Wahrscheinlichkeit mehr homosexuell empfindende Menschen in unseren persönlichen Umfeldern als wir ahnen und für möglich halten. Menschen, die aus Angst vor Verurteilung aber niemals darüber sprechen würden – noch nicht einmal mit dem eigenen Ehepartner.

Es sind Beobachtungen und Wahrnehmungen wie diese, welche Männer und Frauen, die sich selbst als Versager, Blindgänger und Rohrkrepierer erleben, nicht in Gemeinden kommen lassen, so ist jedenfalls meine Erfahrung: „Die Perfekten werden mich verurteilen.“ Ich passe dort nicht hin. Alle sind zwar nett, aber zu gut – und verständnislos. Die Gottesdienste mögen lebhaft sein, doch ich bin kein Teil der Gemeinschaft. Niemand begreift, was Kampf, Stolpern und Fallen bedeutet. Sie sagen zwar, ich soll kommen, wie ich bin – doch ich darf nicht sein, wie ich bin.

Schade, dass jene, die Gnade am meisten bräuchten, sie am wenigsten dort finden, wo eigentlich ein Überfluss an Entgegenkommen und Vergebung zu finden sein sollte: in den Gemeinden, die irdische Verkörperung Jesu selbst.

Es muss nicht jeder gleich drogenabhängig werden oder selbst Ehebruch begangen haben, um andere verstehen zu können (wobei ein solcher Fall manchem Herz die stolze Schale brechen könnte; Stolz ist schließlich die schlimmste aller Sünden). Jesus ist wieder einmal das ultimative Vorbild: Er war durch und durch sündlos – dennoch liefen ihm ausgerechnet die Sünder nach. Warum? Weil sie sich hier angenommen fühlten und nicht schämen mussten. So ist Jesus. Genau das müssen wir neu erlernen. Es sollte Thema Nr. 1 unserer ganzen Gemeindepädagogik sein: Im Alltag werden wie Er.

Ein guter Anfang wäre es, sich der eigenen Heuchelei bewusst zu werden. In evangelikalen Kreisen tendieren wir leicht zum Glauben, dass mit „der Entscheidung“ für Jesus alles ein für alle Mal in Butter sei. Wie wäre es da mit folgender Übung:

Nimm dir eine Stunde Zeit an einer Stelle, wo du ungestört ganz für dich allein sein kannst. Dann wähle eine Sache aus deinem Herzen, worüber du niemals mit anderen reden würdest, und beschreibe sie in detailreicher Ausführlichkeit dem Herrn im Gebet. Einen wiederkehrenden, schlimmen Gedanken vielleicht. Oder etwas zwanghaftes, das dir anhaftet. Eine schmutzige Phantasie, ein Hass. Wir alle tragen so was mit uns herum. Was auch immer es ist, beschreibe es Gott ausführlich und ehrlich. Schreib’s auf, wenn’s sein muss und vernichte es hinterher. Sage Gott am Ende, dass es so ist, wie du es beschrieben hast (er wusste es übrigens schon vorher aber wollte es gerne mal aus deinem Mund hören), lege es in Seine Hände und bitte kurz um Vergebung. Fertig. Erzähl Ihm ein anderes Mal von der gleichen oder der nächsten Peinlichkeit in deinem Herzen, die niemand jemals erfahren darf. Diese Übung gilt nur dir und dem Herrn, es geht niemand anders etwas an.

Wer dazu nicht in der Lage ist, darf sich aufrichtig als stolzer Heuchler bezeichnen, als jemand, der selbst vor Gott Masken zu tragen und sich zu verstecken versucht. Wer hingegen vor Gott und sich selbst ehrlich sein kann, übt sich in Demut. Sieht ein, dass es um einen selbst eigentlich auch nicht viel besser bestellt ist als um all die anderen schlimmen Sünder in der Welt. Mit dieser Einsicht im Herzen kann man anderen Mitmenschen leichter begegnen, ohne gleich zwischen den Zeilen Unverständnis auszustrahlen. Bitte nicht vergessen: Sowohl Gnade als auch Verurteilung kommuniziert man heutzutage vor allem durch eine eindeutige Körpersprache und alles, was man (nicht) sagt und vor allem was man (nicht) tut. Es gibt keine physischen Steine mehr zu werfen für solche, die ohne Schuld sind.

Vielleicht war das schon eine kleine Vorschau auf die Jahreslosung 2015. So manche wichtige Lektion lernt man nicht in der Kirche, sondern unerwartet im Krankenhaus.

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