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Am Bahnsteig gestrandet

Foto: © Gabriella Gothberg | Dreamstime.com

Noch eine gute halbe Stunde bis mein Zug geht. Ich begebe mich auf den menschenleeren Bahnsteig mit Blick auf einen glitzernden See. Meine Augen sehen sich nach einer Bank in der Sonne um, wo ich nach mehreren Tagen pausenloser Begegnungen in Ruhe mein Buch lesen möchte. Doch mein Blick erspäht die Konturen eines Hühnen mit Hut, der neben der Bank meiner Wahl aus dem Schatten tritt. Wie im Film kommt ein Schwarzafrikaner langsam aber zielstrebig auf mich zu. Ich spüre sofort, dass hier irgendwas nicht stimmt.


Er bleibt etwas auf Abstand stehen und fragt, wohin ich reise. Wann der nächste Zug gehe. Tritt einen Schritt näher. Augen und Hände verraten, dass er aufgeregt, nervös, fast schon ängstlich ist. Ich frage nach dem Ziel seiner Reise. Er will nach A. Das liegt genau auf meiner Strecke. Doch er sei in F. den falschen Zug gestiegen. Er habe auf dem Bahnsteig einen Anruf bekommen. Er habe telefoniert. Wieder blitzt Angst aus seinen Augen. Ich höre die Pausen, bemerke die kurzen Blicke zum Himmel. Da habe er nicht aufgepasst und sei in den falschen Zug gestiegen. Der Schaffner habe ihn hier herausgeworfen. Nun sei er hier. Aber er muss doch nach A. Dort hat er Arbeit. Er darf seine Arbeit nicht verlieren. Auf gar keinen Fall. Und jetzt komme er viel zu spät. Dies sei ein schlechter Tag, ein sehr schlechter Tag.

Da wir beide in die gleiche Richtung wollen, erkläre ich ihm die Verbindung, wann und wie wir in F. umsteigen müssen. Plötzlich will er wissen, ob ich die Sahara kenne. Ich schaue verdattert auf, sage aber nichts. Die Sahara sei riesig. In Afrika. Eine Wüste. Sie haben ihn angerufen. Die aus der Sahara. Sie haben ihm gesagt, dass sie seinen Sohn gekidnapt haben. Seinen ältesten Sohn. Er war auf dem Weg hierher, in dieses Land, auf dem Weg zu ihm, seinem Vater. Im Heimatland werde der Krieg immer schlimmer, und es sei kein Ende in Sicht. Nun soll der Sohn kommen. Alles ist geplant. Durch die Sahara, über’s Meer und dann Österreich. Von dort weiter hierher. Doch nun haben sie ihn gefangen. Entführt. Sie wollen 4000 $ von ihm. Er hat keine 4000 $. Dann werden sie ihn eben erschießen. Er habe das Geld aber nicht. Ok, meinten sie, dass sei seine Entscheidung, dann wähle er eben den Tod. Er könne es sich ja nochmal überlegen.

Ich frage ihn, ob das der Anruf war, weswegen er in den falschen Zug gestiegen ist. Er nickt. Ich weiß nicht, wie ich nach so einem Anruf drauf wäre.

Ich bin schockiert. Unerwartet und aus buchstäblich heiterem Himmel werde ich mitten im Frieden eines sonnigen Kleinstadtidylls von Krieg und Verfolgung eingeholt. Völlig unvorbereitet bekommen sonst anonyme Nachrichten ein Gesicht und zwei Namen: M., mein verstörtes Gegenüber mit dem karierten Hut, und Y., der entführte Sohn. Die Krise rückt mir auf die Pelle.

Unerwartet ja. Aber unvorbereitet?

Nein. In diesen Tagen gibt es keine unvorbereiteten Menschen in unserem Land. Zu gegenwärtig sind die täglichen Berichte der Nachrichten, die kursierenden Bilder der sozialen Medien. Wir alle haben uns Gedanken gemacht und mit anderen darüber gesprochen. Es sind eben diese Gedanken und Gespräche, die unser Inneres sehr wohl vorbereitet haben – gepaart mit unseren heimlichen, wahren Lebenswerten (nicht den offiziellen, die wir öffentlich zur Schau tragen). Und eben diese Vorbereitung entscheidet darüber, wie wir reagieren werden, wenn es uns unerwartet trifft.

Wie werde ich mich verhalten, dort auf dem Bahnsteig, müde und mich eigentlich nach einem sonnigen Plätzchen zum Lesen sehnend?

Ich schaue M. ins Gesicht und sage ihm, wie leid mir das alles tut. Wie schrecklich das alles ist. Und dass ich in der Sahara leider nicht viel mehr ausrichten kann, als all das in Gottes Hände zu legen. Ich möchte für M. und Y. beten, hier und jetzt, auf dem Bahnsteig. Segnend hebe ich meine Hände und bete zum himmlischen Vater, vielleicht ein oder zwei Minuten. M. bestätigt mein Gebet, indem er anhaltend „Amen. Amen. Amen.“ sagt.

Nach dem Gebet sieht er mich freudestrahlend an. Reicht mir die Hand. Ich sei ein guter Mensch. Ein übernatürlicher Friede sei in sein Herz gekommen. Er wisse nun, dass Y. nichts geschehen werde. Alles liege in Gottes Händen. Danke, danke!

Es stellt sich heraus, dass M. Muslim ist. Er fragt, ob ich Christ sei. Wir sprechen über Gott, Abraham und Mose. Die Art, wie ich glaube, fasziniert ihn, vor allem, dass Gott mein Gebet so spontan erhört hat. Immer wieder muss er erwähnen, dass sein Herz nun voller Friede sei, und Gott mich gesandt haben müsse. Er möchte meine Telefonnummer, denn er will ein Fest feiern, sobald sein Sohn angekommen ist, und dazu sind wir jetzt schon eingeladen.

In A. trennen sich unsere Wege. Ich habe das Gefühl, eine Saat gelegt zu haben, die der Heilige Geist wachsen lassen möchte. Betet mit mir für M. und Y.

Was lerne ich daraus? Dass die Welt gerade durch enorme Veränderungen geht, und wer lernt, sie anzunehmen, hat es leichter, von Gott gebraucht zu werden.

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