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ὁλόκαυστος

Gemälde von Paul Gauguin: The Devil Speaks (1894).
Dieser Artikel erschien bereits auf meinem anderen Blog, aber wegen COP 26 jetzt nochmal auf hope4future.eu.

Wenn Nichtdeutsche mich außerhalb Deutschlands auf Hitler und die Judenvernichtung ansprechen, kann ich das als persönliche Ehre auffassen: Sie fühlen sich offenbar sicher genug, dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte mit mir diskutieren zu können, und das ist nicht selbstverständlich (manche zucken förmlich, wenn sie „zu spät“ merken, dass ich ja Deutscher bin und wechseln dann lieber schnell das Thema). Doch mittlerweile bietet mir der Holocaust neue Möglichkeiten bei meiner eigenen Kommunikation mit der Welt.

„Nie wieder!“ „Wie konnte das passieren?!“ „Warum hat niemand etwas unternommen?“ „Was können wir daraus lernen?“ Mit solchen Fragen und Aussagen bin ich großgeworden, gepaart mit ungezählten, detailreichen Geschichten und Augenzeugenberichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Als Kind wurden sie mir manchmal lästig und zu viel, heute bin ich sehr dankbar, einen winzigen Teil des kollektiven Gedächtnisses weitergeben zu dürfen. Das altgriechische Wort ὁλόκαυστος (holókaustos) bedeutet so viel wie „völlig verbrannt“ und wurde durch die Geschichte immer wieder für Dinge wie rituelle Verbrennungen oder auch Feuerkatastrophen benutzt. Für uns Deutsche hat das Wort heute zu 99% nur eine einzige Bedeutung: Als Synonym für „Hitlers Endlösung in der Judenfrage“ haben wir es von den Amerikanern übernommen. Auf schwedisch nennt man den Holocaust einfach nur „die Vernichtung“. Natürlich ist der Holocaust ein Thema, das man immer gerne auslässt oder auch – trotz allem – am liebsten vergessen möchte.

Überraschenderweise greife ich mittlerweile aber selbst immer häufiger auf diese Vokabel zurück.

Zum Beispiel lade ich zu einer gedanklichen Zeitreise in den Anfang der 1930-er Jahre ein. Ich bitte darum, sich so plastisch wie möglich vorzustellen, wie das Leben in einer europäischen Stadt um 1932 ausgesehen haben mag: Pferde? Oldtimerautos? Marktstände? Zeitungsjungs? Um sich danach vorzustellen, dass wir diese Zeitreise zum Zwecke von Straßeninterviews machen. Such dir also eine Person aus, die in deiner Phantasie gerade dort herumläuft. Wie sieht sie aus? Welche Kleidung? Frisur? Du sprichst sie an, sie erlaubt dir, deine Fragen zu stellen und du legst los: „Was halten Sie vom Holocaust und wie können wir ihn verhindern?“ Und jetzt ist Deine Phantasie wirklich gefordert: Wie reagiert diese Person im Jahre 1932?

Wer hätte 1930 schon ernsthaft gedacht, dass nur fünfzehn Jahre später rund sechs Millionen Juden systematisch und mit industriellen Methoden getötet sein würden? Sechs Millionen Menschen?!

Hinterher kann man sich natürlich fragen, wie hätte das verhindert werden können? Warum hat man nichts unternommen? War es nicht vielleicht doch vorhersehbar? Hat es nicht vielleicht doch genug Anzeichen gegeben, die auf einen sich anbahnenden Holocaust deuteten? Doch Holocaust war noch ein Wort ohne Bedeutung, ohne jede Relevanz, ohne Berührung mit dem eigenen Alltag. Anfang der 1930-Jahre hätten die Menschen also genauso reagiert, wie viele von uns heute reagieren, wenn wir Klimawandel hören. Mit mehr oder weniger viel Unverständnis. Die Geschichte der Kirchen ist in Sachen Holocaust auch keine vor Ruhm triefende. Auch sie hat das Problem nicht erkannt oder sehen wollen. Die Bekennende Kirche, auf die wir heute alle so stolz sein wollen, war nämlich nicht mehr als nur eine gefährliche Ausnahme zur Regel der bequemen Tatenlosigkeit. Fast wie heute also. Dabei hätten wir heutzutage weit mehr Fakten als nur Mein Kampf.

Nature, die am meisten etablierte Zeitschrift für naturwissenschaftliche Publikationen (also seriöser als Hitler und sein Buch), veröffentlichte 2018 eine Berechnung, die das menschliche Leiden der Klimakatastrophe in Zahlen ausdrücken sollte. Man versuchte, die mathematische Differenz zwischen zwei möglichen Zukunftsszenarien zu berechnen, also die weltweiten Opferzahlen bei 1,5°C Erderwärmung minus die Opferzahlen bei 2°C. Ergebnis: Jene 0,5°C Temperaturdifferenz würde weltweit 150 Millionen Menschenleben mehr aufs Spiel setzen.

150 Millionen. Einhundertfünfzig Millionen. Menschen. Seelen. Schicksale. 150 : 6 = 25. Anders ausgedrückt: 2° Erderwärmung anstatt von „nur“ 1,5° = Holocaust x 25. Doch diesmal haben wir keinen Bösewicht mit Schnauzbart, auf den wir alles schieben können. Diesmal ist es Unser Kampf, Wir alle sind dabei, 150 Millionen Menschen mit Lachgas, Methan oder Kohlendioxyd zu vergasen und ihre Zukunft zu verglühen. Nicht nur Juden. Wir killen schonungslos alle. Juden, Christen, Atheisten. Muslime, Hindus, Animisten. Wir gehen kaltblütig über jede Leiche, nur, um unser Leben als Luxusgötter und Herrscher der Natur fortsetzen zu können. Kirche, wo bist du?!

Übrigens hat das IPCC die Ziffer 150.000.000 etwas später aktualisiert und drastisch erhöht. Das sind Zahlen, die wir uns alle gar nicht mehr vorstellen können. Nur eins ist sicher: Hitler wird im Vergleich zu unseren Untaten völlig verblassen. Adolf wird in 50-100 Jahren keine große Rolle mehr spielen. Wir werden die Rolle der Bösen einnehmen, die es verkackt haben. Unsere Generation wird man, solange die Menschheit besteht (und Jesus noch nicht wiedergekehrt ist), mit Fragen überschütten:

Warum habt ihr nichts unternommen?

Warum habt ihr nur zugeschaut?

Und nicht nur das: Warum habt ihr auch noch fleißig mitgemacht?

In den kommenden Jahrzehnten werden Bücher über uns geschrieben und Filme über uns gemacht werden. Die Hippiegenerationen und ihre Kinder werden dort genauso unerträglich, gefühllos, unmenschlich und unbarmherzig aussehen wie die Gestapo oder KZ-Aufseher in den Darstellungen unserer Generation. Mit einem Unterschied: Die Nazis waren böse, aber intelligent. Uns hingegen wird man als egoistische Trottel in Erinnerung halten, die sich selbst für ganz furchtbar schlau hielten. Letzteres ist mindestens 25x schlimmer.

Als Christ habe ich mich entschieden, dort nicht mehr mitzumachen. Ich wünschte mir nur, dass mein Name vielleicht irgendwo einmal in einer winzigen und unbedeutenden Fußnote, die eh keiner liest, mit der Bekennenden Kirche oder mutigen Propheten wie Dietrich Bonhoeffer in Verbindung gebracht wird. Als Deutscher stehe ich deshalb auf, nehme Worte wie „Holocaust“ wieder in den Mund und rufe: „Nie wieder!“

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