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Wohin Zweifel führen

Die katholische Tradition kennt eine Heilige namens Therese von Lisieux. Nun bin ich weder überzeugt von Heiligenverehrung noch übermäßig verzückt von katholischer Theologie; die Geschichte von Therese von Lisieux erregte dennoch meine Aufmerksamkeit. Nicht so sehr, weil sie mehr als ein Drittel ihres nur 24-jährigen Lebens im Kloster verbrachte. Interessant ist ebenfalls, dass sie sich der „barmherzigen Liebe Gottes“ weihte, aber auch das ließ mich nicht aufhorchen. Hellhörig wurde ich, weil die Nonne Therese im Grunde als Atheistin starb, in finstrer Gottesferne: „Ich glaube nicht mehr an das ewige Leben: mir scheint, dass auf dieses sterbliche Leben nichts folgt“. Und dennoch wurde sie heiliggesprochen. Und nicht nur das, obendrein gilt sie als „Patronin der Weltmission“.

Eine heilige, atheistische Nonne als Patronin der Weltmission ist eine sehr merkwürdige Kombo. Thereses Geschichte hätte ich vor 15 Jahren noch als „katholischen Unfug“ und „unnötig“ beiseite geschoben. Doch heute, nach Jahren eigener „Weltmission“ in internationalen Geflechten, ebenfalls im Auftrag der barmherzigen Liebe Gottes, nach so vielen Begegnungen mit Andersgläubigen, Gesprächen mit geistlich Verzweifelten, Diskussionen mit Suchenden und solchen, die am liebsten Atheisten geworden wären, weil sie sich schwer verletzt aus frommen Kreisen schleppen mussten, deren Seele bis heute und für immer hässliche Brandnarben tragen wird, ja, da beginne auch ich, so manches zu hinterfragen.

Es geht mir um den Prozess, den wie Therese auch die meisten Missionare durchlaufen. Man beginnt seine Reise mit großen, festen Überzeugungen, die nie ernsthaft hinterfragt wurden. Man glaubt, damit die Welt gewinnen, zumindest aber verändern zu können. Allein, in den wenigsten Gemeinden wird man darauf trainiert, den Glauben auch von der anderen Seite verstehen zu lernen, von der Seite der „Nichtchristen“. Bibelschulen, selbst die Kurse der Universität, auf der ich studierte, lesen die Bibel meist nur aus einer einzigen Perspektive – die der europäischen Kirchengeschichte. Das ist nicht grundsätzlich falsch, nein, das ist es nicht! Aber es begrenzt ungemein. Zur westlichen Kirchen- und Theologiegeschichte gehört es z.B. nämlich auch, die Bibel eher hellenistisch zu interpretieren – also mit starken Einflüssen der griechischen Philosophie – und nicht so sehr jüdisch, was doch eigentlich viel logischer wäre. Auch das ist nicht grundsätzlich falsch, aber es beraubt uns so vieler Ressourcen, Einsichten, Aha-Erlebnisse. Wenn wir heute z.B. den Römerbrief lesen, gehen wir unweigerlich, automatisch und unterbewusst davon aus, der Jude Paulus hätte diese Abhandlung einzig und allein als Antwort auf die Fragen eines verzweifelten Mönchs im deutschen 16. Jahrhundert geschrieben. War der Römerbrief also in Wahrheit an Martin Luther gerichtet? Ich habe so meine Zweifel.

Die große Frage ist, wohin solche Zweifel uns führen. Ich vergleiche Glaube und Zweifel gerne mit Küchenmessern (ich bin nämlich ein Fan von richtig guten Klingen!): Selbst der härteste und beste, japanische Stahl stumpft irgendwann ab. Das liegt in der Natur der Sache, jedes Messer muss von Zeit zu Zeit geschliffen werden. Der Schleifstein aber ist für jedes Messer eine grundsätzliche Gefahr. Der falsche Winkel oder Druck kann das beste Messer völlig zerstören. Also hat die Kirche uns lange eingebläut, Zweifel am besten erst gar nicht an uns heranzulassen. Doch die Folge ist eine Sammlung stumpfer Messer, Gemeinden, in denen nicht gestritten wird, wo möglichst alles stimmig sein muss. Und das geht halt am leichtesten, wenn man sich an nur eine einzige Perspektive hält, die Harmonie verspricht. Und sich vor allem fern von Schleifsteinen hält! Unstimmigkeiten werden dann eher als Gefahr, weniger als Möglichkeit gesehen. Als Europadirektor einer internationalen Organisation habe ich entsprechend viele Missionare vorzeitig heimkehren sehen, weil ihnen die Herausforderungen zu groß wurden, weil das Leben im Ausland zu anders war, weil sie vielleicht sogar zu sehr auf Konfrontation mit dem Schleifstein gegangen sind – der dann nämlich immer der stärkere sein wird. Man trägt schwer zu reparierende Macken davon. Die Folge sowohl von Nichtschleifen als auch Falschschleifen ist ein stumpfer oder völlig unbrauchbarer Glaube. Messer aber, auf denen man reiten könnte, ohne sich zu schneiden, sind wie Salz, das nicht mehr salzt. Nichts davon gehört in eine gute Küche.

Unbequeme Fragen, widersprüchliche Aussagen, neue Perspektiven, ja, auch andere Theologien kann ich schon lange nicht mehr von mir fern halten. Ich muss diese Menschen einfach treffen, ihnen zuhören, sie verstehen lernen, ihre Bücher lesen, muss es zulassen, dass sie mich berühren, bis die Funken fliegen. Doch immer schön vorsichtig, mit viel Gefühl, viel Geduld, viel Liebe und vor allem: immer nur im richtigen Winkel und ohne den Stahl glühen zu lassen, damit er seine Härte behält. So schleift man seinen Glauben.

Zugegeben, längst schon lebe ich nicht mehr in jener heilen und frommen Welt, wo jede Frage eine platte Antwort, jede globale Entwicklung eine plumpe Erklärung hat, wie es früher bei mir selbst war und wie ich es bei manchen Christen auch heute immer wieder mal erlebe. Die Bibel lese ich heute immer öfter mit den Augen der Zweifelnden und Verzweifelten, immer seltener aus Perspektive der westlichen Gemeinde, die meint, dafür sorgen zu müssen, ganze Gesellschaften wieder „christlich“ werden zu lassen. Stattdessen fühle ich mehr und mehr mit den Kleinen und Schwachen. Auch deswegen, weil ich mich selbst mit meinen eigenen Fragen (ganz besonders denen zur nahenden Klimakatastrophe, zu drohenden Atomschlägen, neofaschistischen Tendenzen oder auch zur erwartenden Zerbröselung unseres Wohlstandes) sehr, sehr klein und machtlos fühle. Doch im Gegensatz zu Therese von Lisieux komme ich nicht zur Schlussfolgerung, dass Gott nicht existieren kann. Im Gegenteil. Ich übe mich stattdessen in Geduld und warte auf den Messias, der wiederkommen und die Gerechtigkeit in seiner Schöpfung wiederherstellen wird. Dieses ausharrende Warten auf unseren großen und guten Gott unterscheidet mich von Atheisten. Und das habe ich übrigens nicht von den Griechen, sondern den Juden gelernt.

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