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Psalm 123

1 Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel wohnst. 

Das tun wir hoffentlich immer wieder, denn die Augen sind das Fenster zur Seele. Unser Innerstes wird mit dem gefüllt, worauf wir sehen. Auch wenn das Sehen auf den Herrn für viele Christen nur noch im Gottesdienst geschieht, immerhin ist es regelmäßig.

2 Wie die Augen der Knechte auf die Hände ihrer Herren sehen, wie die Augen der Magd auf die Hände ihrer Frau, so sehen unsere Augen auf den Herrn, unseren Gott, bis er uns gnädig werde.

In Gemeindevokabular sprechen wir zwar oft von „Herr“, aber es scheint, niemand versteht heute noch annähernd, was „Herr“ bedeutet. Wann haben wir schon mal in so totaler Abhängigkeit gelebt, wie diese Knechte und Mägde? Ausgeliefert, wartend, hoffend, genau beobachtend, und da ist nichts, gar nichts, was wir selber tun könnten. Wir sind machtlos, der Herr entscheidet ganz allein, ob, wann, und wieviel er austeilt. Nein, das kennen wir nicht mehr – wir können heute ja noch nicht mal auf ein Weihnachtsgeschenk warten; wir kaufen es uns vorher einfach selbst. Wie überhaupt alles andere auch. Selbstbestimmung ist Trumpf. Wählen können ist die Regel. Und wenn wir etwas im tiefsten Herzen wirklich glauben, dann, dass wir ein Recht darauf haben. Schließlich haben wir heute ein Recht auf unsere Rechte. Doch was teilt der Herr aus? Gnade. Haben Europäer auch ein Recht auf Gnade?

3 Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig; denn allzusehr litten wir Verachtung. 

Wahlrecht, Menschenrechte, Rechtsstaat. Wir haben es uns verdient. Weil wir es uns wert sind. Unsere Herzen bitten kaum noch „sei uns gnädig“, denn „herrschende Herren“ sind heute politisch ziemlich inkorrekt. Erst recht in Verbindung mit menschenunwürdigen, aber typisch christlichen Worten wie „Hölle“. Sollte heutzutage jemand ernsthaft behaupten, Gnade sei alles, was besser ist als Hölle, naja, dieser jemand disqualifiziert sich unmittelbar als weltfremdes Relikt längst vergangener Zeiten. Diese menschverachtenden Epochen mit solchen Ansichten haben wir doch wohl längst hinter uns gelassen. 

Doch plötzlich zupft etwas an unseren Scheuklappen. Es ist sehr unangenehm, und wir wehren uns. Aber es lässt nicht nach. Wer fingert da an unseren Scheuklappen herum? Die saßen gerade so bequem! Verflixt! Ich kann diesen Nervbold nicht sehen! Dafür sehe ich jetzt was anderes. Mann, ist das nervig!

4 Allzusehr litt unsere Seele den Spott der Stolzen und die Verachtung der Selbstherrlichen. 

Es ist der Herr der Herren, der uns eine unerwartete Lektion erteilt. Er lässt Millionen Menschen kommen, die aus einer irdischen Hölle fliehen. Deren Leben und Würde vollständig verachtet wird. Der Herr der Herren schickt einen Strom, der so schnell nicht endet. Und je mehr kommen, desto nerviger wird es, denn im Vergleich zu diesen Seelen dämmert uns plötzlich unser dagobertähnlicher Reichtum, von dem wir immer dachten, ein Recht darauf zu haben. Teilen möchten wir nicht. Nur schwer lässt sich der Gedanke niedertrampeln, dass WIR es sind, die stolz und selbstherrlich denken. Und dann – oh schreck, lass nach! – sehen wir auch noch ein, dass diese Flüchtlinge jenem Herrn, den WIR eigentlich anbeten, viel, viel ähnlicher sind als wir selbst es in unseren teuren Gemeindehäusern je sein können. Denn wenn unser Herr und Meister Jesus für etwas ganz besonders bekannt wurde, dann für sein Leiden, die durchgemachte Ungerechtigkeit, den Spott, die Verachtung. Und nun schickt er uns Leute, die uns heute vormachen, wie Stolz, Spott und Verachtung im 21. Jahrhundert auf europäischem Boden aussehen kann. Denn eines Tages werdem die Stolzen für ihre Selbstherrlichkeit verachtet werden.

Was wir tun können? Einsicht ist ein guter, erster Schritt zur Besserung. Die Einsicht, dass wir Gnade brauchen für unsere stolzen Sünden. Einsicht und Gnade ist leicht zu bekommen, wenn man seine Seele in der Gegenwart des Herrn der Herren füllt. 

Also hebe ich meine Augen auf zu dir, der du im Himmel wohnst…  




   

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