Zum Inhalt springen

Die große Enttäuschung

Von allen zu erwartenden Herausforderungen der Zukunft kann diese recht einfach gelöst werden. Doch wenn wir das versäumen, wird sie uns sehr gefährlich werden.

Neulich war ich wieder einmal zu Gast auf einem Inspirationstag für Gemeindegründer. Die veranstaltende Denomination verfolgt ein ambitiöses Ziel: 3% jährliches Wachstum, und zwar ausschließlich durch Neubekehrungen. Das macht ziemlich viele Konvertiten, die man sich pro Jahr wünscht, und wenn der Plan aufgeht, werden es mit Zins und Zinseszins sogar jährlich mehr.

Um eine ganz neue Missionsbewegung anzuspornen, hatte man Teams, Inlandmissionare, Bibelschüler, Coaches und andere hochkarätige Leiter eingeladen. Ein inneres Feuer sollte neu zum Lodern gebracht werden, Gottes unbegrenzte Möglichkeiten wurden verkündigt, seine endlosen Quellen der Liebe, man predigte den Missionsbefehl, bot Seelsorge und Fürbittegottesdienste an. Wir hörten Geschichten, auf welch vielfältige Weise die einzelnen Projekte in ihren jeweiligen Umgebungen versuchen, Zeugnis zu sein.

Ein Team erzählte z.B. von ihren persischsprachigen Gottesdiensten, die sie freimütig über soziale Medien ins Netz streamen. Eine offenbar wohlhabende Person hatte diese Gottesdienste verfolgt und sich dann entschieden, die weitere Reise zu jenem Inspirationstag auf sich zu nehmen, nur, um sich dort und in einem sicheren Land vor allen versammelten Missionaren und Gemeindegründern öffentlich bekehren zu können.

Das Übergabegebet war gewaltig. Der anschließende Jubel, die spontanen Lieder, die Gebete, die lauten Dankesrufe und Umarmungen repräsentierten die Freude der Engel im Himmel über jeden, der zurück zum Himmlischen Vater findet (Lukas 15). Gleichzeitig zeigte diese spontane Feier aber auch – und vor allem vielleicht der sprachlose Evangelist, der anschließend auftrat um eine Rede zu halten, aber tief bewegt und von Tränen überwältigt nicht in der Lage war, seine Worte zu finden – wie ungewöhnlich Bekehrungen heutzutage geworden sind. Ich jedenfalls erinnere mich noch sehr gut an Evangelisationen mit ziemlich vielen Bekehrungen und ziemlich wenig Freudentränen, jedenfalls auf Seiten der Veranstalter. Da nahm man Bekehrungen noch als völlig selbstverständlich hin. Die Zeiten ändern sich eben.

In diesen veränderten Zeiten erscheint das 3%-Ziel noch viel ehrgeiziger. Erst recht, wenn man berücksichtigt, dass jene Denomination seit Jahren um jährlich 1,5% schrumpft. Die Kompensation allein dieses Verlusts addiert nämlich mal eben schnell noch eine weitere vierstellige Zahl zusätzlicher Neubekehrter zu den schon recht ambitionierten 3%. Und wie mir der Denominationsleiter im persönlichen Gespräch offenbarte, steht der ganz große Einbruch der Mitgliederzahlen sogar erst noch bevor, wenn der große Batzen der heute 70- bis 80-jährigen Mitglieder in absehbarer Zeit heimgehen wird.

Es gibt also viel zu tun. Nichts wie in die Hände gespuckt und ran ans Werk. Inspirationstage, Rüstzeiten, Beten und Fasten, all das kann es gar nicht genug geben. Doch genau hier schlummert auch eine unerkannte Gefahr. Der große Glauben an Gottes große Kraft, an den großen Missionsbefehl und die große, reife Ernte weckt auch große Erwartungen. Sie lässt große Visionen und Ideen entstehen und die meisten Prediger fördern diese Spannung und Vorfreude. Sie haben viele biblische Gründe, das zu tun. Und es geht solange gut, bis die armen Gemeindegründer von der nüchternen Wirklichkeit eingeholt werden.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es gibt derzeit sehr viele christliche Konvertiten auf der Welt. Missionshistorisch ist es höchst erstaunlich, wie sich die weltweite Gemeinde in wenigen Jahrzehnten verändert und entwickelt hat. Doch gerade im „christlichen Abendland“ haben wir den Zenit schon lange überschritten. Die oben erwähnte Denomination ist längst nicht die einzige, die schrumpft. Auch hier und heute gibt es natürlich noch Neubekehrte. Es gibt neue und wachsende Gemeinden, halleluja. Manche Gemeinden taufen erstaunlich viele neue Gläubige. Wir müssen das nur in die rechte Perspektive des großen, neuen Bildes setzen: Die Summe der sterbenden Christen und „Entkehrten“ ist zumindest in Europa unverhältnismäßig höher als die Summe der Neubekehrten. Außerdem bekehren sich vor allem die, die bereits in einer kirchengeprägten Kultur großgeworden ist, doch auch dieser Anteil wird mittelfristig abnehmen. Der Trend geht nach unten und die Kurve wird steiler. Bekehrungen müssen also als das betrachtet werden, was sie geworden sind: Feiernswerte Ausnahmen. Sie sind leider keine Regel mehr.

Somit müssen wir uns fragen, worauf wir Gemeindegründungsteams vorbereiten: Auf die Ausnahme oder die Regel?


Gott zwingt niemand zur Bekehrung.


Wer große Visionen verfolgt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit große Enttäuschungen erleben. Man könnte natürlich erwidern, dass ich nicht genug mit Gottes Kraft und Möglichkeiten rechne. Doch trotz Gottes Allmacht zwingt er niemand zur Bekehrung. Gott will freiwillig geliebt werden. Der Mensch ist keine passive Salatschüssel, die willenlos mit Inhalt gefüllt wird. Trotz großem Seelenschmerz, Einsamkeit und spiritueller Suche will die westliche Mehrheit glauben, dass das Christentum als gewogen und für zu leicht befunden abgehakt wird.

Unser charismatischer Fokus auf unrealistische Erwartungen stellt sich als kontraproduktiv heraus, weil er uns anfangs doped und hyped, doch langfristig nur Pein und Kummer sät. Wie im obigen Clip erwähnt, werden immer mehr Leiter an der Nichterfüllung ihrer großen Visionen verzweifeln.


Immer mehr Leiter werden an der Nichterfüllung ihrer großen Visionen verzweifeln.


Vor drei Jahren war es vielleicht nur eine Prophetie, die Gott mir durch zum Teil eigene Erfahrung gegeben hat, doch schon heute ist zu sehen, wie es losgeht. Missionare verlassen ihren Einsatzort, Pastoren gehen zurück in einen säkularen Job. Ich selber coache Gemeindegründer, die mit großer Hingabe, Liebe und Kreativität alles gegeben haben, um neue Gemeinden zu etablieren, doch das Wachstum ist ausgeblieben. Stagnation führt zu Niedergeschlagenheit und Motivationslosigkeit. Vielleicht brennt man sich aus. Manche werden depressiv. Immer häufiger höre ich sogar von Pastorenselbstmord. Nicht alle gehen so weit. Doch immer mehr hängen ihren Glauben an der Nagel, wie zum Beispiel Ro, mein ehemaliger Kollege und (als ehemaliger Europadirektor mein) Vorgänger im Amt, der im folgenden Podinterview frei seine Entwicklung vom Missionar zum Atheist berichtet.

Der ganze Podcast ist übrigens voller interessanter Studien, warum Menschen ihren Glauben aufgeben. Nicht selten handelt es sich um gemeindegezüchtete Probleme.

Eine neue Definition des Erfolgs

Wir müssen wachsam sein, zusätzlich zu rückgängigen Mitgliederzahlen nicht auch noch die zu verlieren, die leiten und missionieren können. Das geht nur, wenn wir eine neue Definition für Erfolg entwickeln und hartnäckig verbreiten, denn unsere fromm-kapitalistischen Prinzipien sind in Gemeinden nicht immer die hilfreichsten. Es geht nur, wenn wir den Traumtanz aufgeben, dass neue Gemeinden aus Neubekehrten innerhalb nur drei Jahre gegründet werden können (Halleluja, wenn es dennoch gelingt! Dann darf es als Ausnahme gefeiert, doch nicht zur Regel erhoben werden.). Es geht nur, wenn Inlandmissionen und sendende Gemeinden den frustrierenden Alltag ihrer Pioniere verstehen lernen und allergrößte Sorge dafür tragen, dass deren Glaube, Liebe, Hoffnung nicht versumpft (ich bin dankbar, eine sendende Gemeinde zu haben, die genau das verstanden hat.). Das heißt auch: Nicht das hippeste, coolste Projekt gewinnt, nicht der Pastor mit der größten Gemeinde, nicht der Missionar mit den meisten Taufen, nicht die beeindruckendsten Zahlen. Jesus wird einst keine Statistiken über erreichte Ziele abfragen. Er will nur wissen, ob wir gemacht haben, wozu er uns berufen hat. Er will wissen, ob wir Gott und unseren Nächsten geliebt haben. In guten wie in schweren Zeiten. Er will wissen, ob wir Zeugnis waren. Gott hat nämlich ein anderes Wort für Erfolg. Wenn wir unserer Berufung gefolgt sind, wird er uns einmal sagen: „Recht so, du guter und treuer Knecht.“

Treue, Ausdauer und Durchhaltevermögen, diese drei müssen wir züchten lernen, um enttäuschte Lähmungen zu vermeiden. Doch die Treue ist die größte unter ihnen.