invertiertes Kotelett |
Meine Eselsbrücke zum Einprägen des altgriechischen Wortes für „Fleisch“ war, dass σάρξ (sarx) ein bisschen wie „Sarg“ klingt. Das war einfach zu merken, denn Fleisch muss ja schließlich vergehen und verwesen. Ja, sollte es nicht sogar bewusst mit Christus gekreuzigt werden? Es erinnert mich an eine Geschichte, die ich in den Anfangstagen meines Glaubens einmal las. Nach dieser Geschichte gab es ein Piratenschiff, das auf allen geenterten Kähnen die Hälfte der Besatzung umbrachte und dann jeweils einen toten Matrosen an jeweils einen lebenden Matrosen fesselte und die zwei an einen Mast band. Die halbtote, halblebendige Besatzung wurde so ihrem Schicksal überlassen. Der fromme Autor jenes Buches schrieb, dass die Armen also regungslos an einen Toten gefesselt, hilf- und steuerlos übers Meer treiben mussten. Manchmal wurden sie jedoch rechtzeitig gefunden, und jener befreiende Augenblick, wo die Lebenden von den Toten losgeschnitten wurden sei, so meinte der Autor, ein treffliches Bild für’s Sterben: Endlich würden wir vom toten Fleische erlöst werden und könnten uns fortan dem wahren Leben vollkommen zuwenden, ohne das tote Verderben in Form des uns anhaftenden Fleisches ständig mit uns herumschleppen zu müssen. Wie man sieht, hat die Geschichte bis heute Eindruck auf mich hinterlassen.
Doch nun frage ich mich: Wenn es wirklich so wäre, dass Fleisch nur tot und verderblich ist, warum hat Gott uns und die ganze Schöpfung dann mit so wunderbaren Leibern geschaffen? Warum schuf er Eva aus einer Rippe und nicht einfach nur aus einer Idee samt weiblicher Intuition? Warum feiern wir jeden Dezember mit viel Lichterglanz und Geschenken, dass „das Wort Sarx wurde“? Und warum nahm Jesus an Ostern so schnell neues Sarx und Blut an – wo er den alten Leib doch ganz gut am Kreuz losgeworden war?
Aus zwei Gründen. Erstens, weil viele fromme Leute, zum Beispiel unser Autor oben, Plato treuer nachfolgen als Jesus. Zweitens, weil die sich Bibel für unsere Ohren in der Tat etwas verwirrend ausdrückt, vor allem, wenn’s um „Fleisch“ und vor allem „fleischlich“ (sarkikos) geht.
Sarx ist ein Teekesselchen mit mehreren Bedeutungen. Es bezeichnet die Materie, aus der wir geschaffen sind. Es kann eine Verwandtschaft, einen Klan umreißen, die alle von „einem Fleische“ sind. Es ist ein Synonym dafür, warum die Menschheit sich vermehrt, denn dies geschieht immer durch die sexuelle Vereinigung zweier Partner – sie werden „ein Fleisch“. Dass Gott sich mit unserem „Fleischsein“ gleichsetzt, indem Er selbst Fleisch wurde, hatte ich schon erwähnt. Alle diese Dinge sind sehr gut, erstrebenswert und in sich sündlos, denn all dies gab es schon vor dem Sündenfall. (Ok, Jesus war vor dem Fall noch nicht Fleisch geworden.)
Doch mit dem Sündenfall kommt eine neue Bedeutung hinzu: Das Leben unterliegt plötzlich dem Tod und der Vergänglichkeit. Das gute Fleisch muss jetzt nicht nur sterben, sondern steht auch noch unter den ewigen Folgen der Auflehnung: Der Mensch will nur noch, was er selbst will, nicht mehr, was Gott will. Dieser menschliche Egoismus, welcher seinen Schöpfer bewusst ausklammert, wird manchmal als „Fleischeslust“ bezeichnet. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber während meiner dreißigjährigen Wanderung im Glauben wurde „Fleischeslust“ für mich mehr zu einem Synomym für Titten, Porno und Orgie als für Egoismus und Selbstzentriertheit. Wenn die Bibel von „fleischlich“ (sarkikos) spricht, so meint sie aber immer die widergöttliche, selbstzentrierte Natur unseres Wesens, die Gottes Gebot von Natur aus ablehnt und in erster Linie an den eigenen Vorteil denkt.
„Fleischlich“ sein bedeutet keineswegs nur gierig seinen niederen Trieben folgen, fleischlich kann äußerst edel und fein sein. Jeder, der sein Leben ohne Gott füllt, lebt fleischlich – egal, auf welche Weise das geschieht.
Das biblische Gegenteil von fleischlich ist „geistlich“ (pneumatikos), und geistlich bedeutet nicht körperlos zu sein oder völlig frei von körperlichen Bedürfnissen. Geistlich zu sein, heißt Gottes Willen auszuleben, doch der steht oft im Gegensatz zu unserer egoistischen Natur.
Am deutlichsten wird das in der Bergpredigt. Es ist dem gefallenen Fleisch nahezu unmöglich, seinen Feind zu lieben, doch genau das verlangt Gott von uns. Es kommt uns sehr widernatürlich vor, sich in Verfolgungen, Verleumdungen oder falschen Anschuldigungen zu freuen, doch dazu fordert Gott uns auf: Freut Euch! Das ist „pneumatikos„! „Sarkikos ist hingegen, sich zu rechtfertigen, die Fehler der anderen zu suchen, herumzujammern. Fleischlich ist, sich zu schämen für sein Aussehen, seine Persönlichkeit, sein Versagen. Fleischlich ist, Angst zu haben vor mächtigeren Personen, zu duckmäusern, sich zu verstecken. Geistlich ist, sich keine Sorgen zu machen, nach einem Schlag in die Fresse auch einen Tritt in den meinetwegen fleischreichen Hintern zu riskieren und dennoch sein inneres Gleichgewicht nicht zu verlieren. Hier liegt der wahre Unterschied zwischen fleischlich und gleistlich. Plato adieu.
Nach vielen Jahrhunderten, in welchen fleischlich vorwiegend als sexuell und geistlich eher als körperlos interpretiert wurde, sehe ich nun die Gefahr, dass das Pendel in die andere Richtung schwingt. Das ist sehr natürlich und passiert nicht zum ersten Mal, dass man auf der anderen Seite vom Pferd fällt. Hier brauchen wir gerade jetzt mehr Stimmen, die gute Orientierung bieten. Mehr Menschen, die das Heilige und das Profane anschaulich vereinigen. Mehr Vorbilder, die offen und ehrlich, aber auch gnädig und liebevoll sind. Denn die oben genannten Matrosen sollten sich nach ihrer Befreiung nicht im übermütigen Freiheitstaumel über Bord stürzen, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie müssen das Trauma überwinden und lernen, den Kahn mit halber Besetzung auf Kurs zu halten und ins Ziel zu bringen.