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Zukunft fließend beherrschen

(Kommentar zum Foto: siehe unten.)

Als wir vor über eineinhalb Jahrzehnten aus einem bayerischen Dörflein kommend in den multikulturellen Nordosten Göteborgs zogen, war das nicht nur ein Umzug ins Ausland. Vor allem wurde es zur Zeitreise. In der neuen Heimat sah man plötzlich mehr Burkas als in Bayern Lederhosen. Als Weiße waren auf einmal wir so unterlegen, wie Schwarze es im bayerischen Dörflein waren. Schnell wurde mir klar: Hier sind wir in der Zukunft gelandet! In nur wenigen Jahrzehnten würde nämlich ganz Europa so oder ähnlich aussehen, zumindest in den Großstädten.

Gleichzeitig hatten wir den Auftrag, „neue Ansätze für Kirche in einer veränderten Welt“ zu finden. Daraus wurde automatisch „neue Wege für die Gemeinde der Zukunft“ zu finden. Die gesellschaftliche Veränderungsgeschwindigkeit würde kaum abbremsen, das war war doch klar. Im Gegenteil: Die Metamorphose ins 21. Jahrhundert hatte gerade erst richtig angefangen. Technologischer Fortschritt, kulturelle Vielfalt, gesellschaftliche Umbrüche würden eher zu- statt abnehmen. Was eben noch zeitgemäß klang, würde morgen schon, also 2010 vielleicht, wieder veraltet sein. Es erschien klüger, sich gleich auf den Wandel als solches vorzubereiten. Das war übrigens, man stelle sich das mal vor, noch bevor Smartphones, Apps & Social Media unser Leben revolutionierten.

Seither haben wir als Familie nicht nur eine Menge durch passive und unfreiwillige Selbstversuche gelernt. Wie es sich anfühlt, z.B. plötzlich selber Ausländer zu sein, mit allem, was alltäglich so dazugehört. Oder als Christ nicht mehr zur gesellschaftlichen Mehrheit (also inklusive Bayerns Katholiken), sondern zu einer kleinen Minderheit unter ganz vielen, ganz anderen Weltanschauungen zu gehören. Wir haben aber auch viele aktive Projekte nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip durchgeführt und dabei zahllose Menschen vieler Nationalitäten getroffen. Vor allem haben wir aus unseren mannigfaltigen Irrtümern gelernt. Zusätzlich wurde mein Internetbrowser immer gespickter mit Lesezeichen zu wichtigen Informationsquellen, die mich über große und bedeutende Veränderungen in der Welt auf dem Laufenden hielten (und es immer noch tun). Da wären wichtige Institutionen zu finden wie etwa das Friedensinstitut Sipri oder wissenschaftliche Seiten wie z.B. Science Daily. Aus alledem bemerkt man mit der Zeit Trends, die, sind sie erst einmal erkannt, nur noch schwer zu ignorieren waren. Meine Arbeit bei Communitas und ALT forderte mich stets heraus, solche Trends obendrein auch theologisch und sogar akademisch zu reflektieren.

Vor wenigen Jahren überraschten mich diese Nachforschungen nicht schlecht: Jahrelang hatte ich völlig ahnungslos und ohne jemals darin ausgebildet worden zu sein eine bestimmte Form der Wissenschaft mehr oder weniger professionell ausgeführt! Nämlich: Zukunftsforschung. Es war eins der Lesezeichen aus meiner Browserbibliothek, das mich unerwartet darauf brachte, nämlich die UNESCO. Dort hatte man vor einigen Jahren den Begriff futures literacy geprägt, übersetzt etwa „Zukunftsfähigkeit“. Man ist bei der UNESCO der Meinung, dass es für die Menschheit von großem Vorteil wäre, in unsicheren und schwer vorhersagbaren Zeiten „zukunftsfähiger“ zu werden. Das definiert man so:

Futures Literacy ist die Fähigkeit, die es Menschen in allem Planen und Tun ermöglicht, die Vielfalt der Zukunft besser zu verstehen. Aus zwei einfachen Gründen kann man die Zukunft besser nutzen“ oder „zukunftsbewandert“ werden. Erstens, weil die Zukunft noch nicht existiert, sie kann nur erahnt werden. Zweitens hat der Mensch die Fähigkeit, sich etwas vorstellen zu können. Infolgedessen kann jeder lernen, sich die Zukunft aus den jeweiligen Gegebenheiten heraus auf unterschiedliche Weise vorzustellen. Dadurch wird die Menschheit zukunftsfähiger.

UNESCO, Link s.o., eigene Übersetzung

Genau das hatte ich jahrelang gemacht! Doch ich als Zukunftsforscher? Das war erstmal eine unerwartete Entdeckung. Nun aber möchte ich diese Erfahrung gerne offizieller werden lassen. Also lese ich Fachliteratur über Zukunftsforschung, wurde Mitglied im Kopenhagener Institut für Futures Studies (CIFS), nehme an deren und anderen Fortbildungen teil und stelle fest: Es ist enorm faszinierend und inspirierend, endlich mal Gleichgesinnte zu treffen und gemeinsam neue Techniken zu lernen. Doch es freut mich ganz besonders, dass das meiste grundsätzlich gar nicht so neu ist. Ich bin Neuling und Alter Hase zugleich, eine merkwürdige Mischung. Das wiederum sehe ich als göttliche Führung.

Mir fällt aber auch auf, dass ich wieder mal der einzige Christ in der Straße bin – diesmal im Block der Zukunftsforscher. Da bolzen Designer, Soziologen, Wissenschaftler aller Art, Autoren, Kaufleute, Ingenieure mit allen möglichen Vorstellungen herum – aber keine Priester, Pfarrer und Pastoren. Mir fällt der enorme Kontrast fast schon schmerzhaft auf, wenn auf der einen Seite meines Lebens Zukunftsforscher mit Begeisterung und Enthusiasmus an großen Weltproblemen arbeiten, mit kreativen Ideen und Lösungsvorschlägen kommen, während auf der anderen Seite meines Lebens viele Christen nur darüber jammern, dass nichts mehr ist, wie es mal war und mit resigniertem Fatalismus auf eine „Entrückung“ von der bösen Welt warten. Das verstehe ich nicht. Unsere Zeitreise als Familie hatte mich auch ohne Zukunftsforscher etwas ganz anderes gelehrt, nämlich die Zeit, in die wir „entführt“ wurden, zu segnen. Weil dieser Segen zu unserem eigenen Segen wird. Frei nach Jeremia 29,7.

Meines Erachtens passt Zukunftsforschung und Christsein perfekt zusammen. Gewiss wird Jesus eines Tages wiederkommen. Doch diesen einen Tag kennen wir nicht, wie die Bibel unmissverständlich zu verstehen gibt. Egal, ob es noch eine Woche oder mehrere Jahrhunderte dauert – bis zu jenem unbekannten Tag sind wir ganz einfach gefordert, Gottes Reich beispielhaft auf die uns gegebene Art vor- und auszuleben, wie Jesus sie seinerzeit auf seine spezielle Art vor- und ausgelebt hat. Gottes Reich hat nämlich ziemlich viel mit einer besseren Zukunft zu tun. Prophetie und Zukunftsforschung sind zwar zwei verschiedene Dinge, doch sie sind verwandt und haben Gemeinsamkeiten. Zukunftsforschung ist kein unchristliches Orakel, das die Zukunft voraussagt. Es ist eine Wissenschaft als Werkzeug für bewusste und weise Entscheidungen, um gut vorbereitet zu sein, um die Zukunft willentlich und aktiv zu gestalten. Ebenso ist die Offenbarung kein Fahrplan, der uns minutengenau voraussagt, wann was passieren wird, sondern die Botschaft Gottes an uns: „Ja, es werden schwierige Zeiten kommen, seid also gut vorbereitet! Und weil ich es euch vorausgesagt habe, seid stets gewiss: Ich habe die Kontrolle nicht verloren! Haltet also durch, gebt nicht auf und verhaltet euch klug!

Wer das ernst nimmt, wir zukunftsfähiger. Und wer lernt, zukunftsfähig zu werden, wird automatisch mutiger, positiver, hoffnungsvoller, aktiver, weiser und vor allem freier.

Hatte uns Christus nicht zur Freiheit berufen?


Zum Foto oben:

Auf einem UNESCO Futures Literacy Seminar wurde ich zur Vorbereitung und für die persönliche Vorstellung gebeten, ein Foto auszuwählen, dass die Zukunft zeigt, wie ich sie mir vorstelle. Zur Aufgabe gehörte auch, nicht lange zu suchen oder gar erst eins zu machen, sondern das erste zu nehmen, woran man denkt.

Ich dachte unmittelbar an dieses Foto.

Weniger wegen dem zentralen Motiv (die nächste Generation, die gemeinsam und liebevoll vorsichtig in die Zukunft bzw. ein Zuhause zu blicken scheint, obwohl auch das wichtig ist).

Sondern eher wegen dem Rand und dem Hintergrund. Im Hintergrund sieht man Panama City, eine ziemlich moderne Stadt, nicht zuletzt architektonisch. Doch auf der einen Seite der Stadt kann man direkt ins Meer steigen, auf der anderen Seite buchstäblich direkt in den Regenwald mit allen seinen wilden Tieren spazieren, der an den Rändern des Fotos zu erkennen ist. Sowohl das Meer als auch der Regenwald sind zwei durch die Moderne extrem bedrohte Lebensbereiche der heutigen Welt.

In Panama City wird der Kontrast durch die unmittelbare Nachbarschaft von Zivilisation und Wildnis so überdeutlich; und das Bild drückt für mich den Wunsch nach einer funktionierenden Symbiose zwischen Mensch und Natur, der Moderne und dem Ursprünglichen aus. Gemeinsam, mit allen Generationen, in Glaube, in Hoffnung und in Liebe.

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