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Was ist normal?

Photo: Hubert Aiwanger by Stefan Brending under Creative Commons CC-BY-SA-3.0 de license

Die Welt durchlebt gerade sehr beunruhigende Rekorde. Trotzdem höre ich Politiker eine Politik für „normale Leute“ fordern, um endlich mal wieder „normal“ zu sein. Doch was eigentlich ist „normal“? (Mit einem Nachtrag speziell für Christen.)

In unserer Region in Südwestschweden hat es seit April fast nichts geregnet. Für dieses eigentlich regen- und wasserreiche Land ist das jetzt schon eine der längsten Dürren in der Geschichte . Die Grundwasserpegel sinken, die Grasmatten verdorren, die ganze Natur ist hier nicht auf solche Trockenheit eingestellt. Schwedens Landkarte der Waldbrandgefahren ist so rot, „als hätte sich das Land schon im Juni einen Sonnenbrand geholt“, wie sich die Süddeutsche Zeitung ausdrückt.

Gleichzeitig werden weltweit Meerestemperaturen auf Rekordniveau gemeldet. Das hat viele Konsequenzen. Unter anderem das wieder beginnende Wetterphänomen „El Niño“, ausgelöst durch hohe Wassertemperaturen im Pazifik.

All das hat (auch) damit zu tun, dass wir 2022 einen neuen Rekord im Ausstoß von Treibhausgasen geschafft haben. Trotz aller Anstrengungen geben wir immer weiter Gas und finden einfach die Bremse nicht: Unsere Lebensweise als Menschen beschleunigt den Klimawandel, mit jedem Jahr werden die Folgen sichtbarer, dramatischer und schmerzhafter.

Trotzdem soll bald alles wieder „normal“ werden. Jedenfalls, wenn man der Rhetorik erstaunlich vieler Politiker folgt. Denn „schuld daran ist nur die SPD“ – das sang zwar Rudi Carell in „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“ , aber die Logik vieler heutiger Machthaber scheint sich auf genau diesem Schlagerniveau zu bewegen: „Alles gar kein Grund zur Unruhe. Wählt uns, und alles wird wieder gut“ – will heißen: normal. Man will Politik für „normale Leute“ machen.

Tatsache ist leider: Weder Herr Aiwanger, noch die AfD oder die FDP oder die Schwedendemokraten oder die amerikanischen Republikaner noch irgendein anderer Politiker egal welcher Couleur wird mal eben den Pazifik abkühlen, geschmolzenes Polareis wieder einfrieren, es gleichmäßiger regnen lassen oder den globalen CO2-Ausstoß nachhaltig stoppen können. Wenn wir uns nicht den Tatsachen stellen, stellen sich die Tatsachen uns.

Tatsache ist auch, dass es in unseren facettenreichen Gesellschaften schwer bzw. äußerst schwierig ist (um nicht zu sagen problematisch), Menschen in „normal“ und „unnormal“ einzuteilen. Denn wer oder was ist dann normal? Wer nicht? Und wer entscheidet?!

Rein anthropologisch kann man „normal“ durchaus erklären. Grob vereinfacht ausgedrückt durchläuft jeder Mensch zwei Sozialisationsphasen, die erste im ersten Lebensjahrzehnt, die zweite im zweiten. Währen der ersten Phase beobachten wir Muster in unserer Umwelt, auch unterscheiden wir zwischen dem, was sich gut oder schlecht anfühlt. In der zweiten oder sekundären Sozialisation erweitern wir unseren Horizont etwas und passen die Muster der primären Sozialisation an. Was wir in diesen beiden Phasen lernen, wird uns dann ein Leben lang als Maßstab zum Bewerten der Komplexität des Lebens zu Verfügung stehen – das wird fortan unsere Norm und damit normal sein.

Mit anderen Worten: Normalität ist zu 100% Subjektivität, anthropologisch gesehen. Wer sich also mehr „Normalität“ wünscht, meint eigentlich die unterbewusste kleine Welt, in der man als Kind lebte. Ein muslimischer Immigrant sehnt sich daher vielleicht nach dem ständigen Ruf des Muezzin, weil er damit aufgewachsen ist und jener regelmäßige Klang ihm höchst normal, weil vertraut erscheint. Bei der heutigen Politik sieht das freilich ganz anders aus: Da die meisten heutigen Politiker des Westens vor oder in den 1960-ern geboren wurden, damit also irgendwie meiner eigenen Generation angehören, vermute ich, dass es sich für sie völlig „normal“ anfühlt, wenn jede Generation mehr Luxus und Wohlstand erlebt als die vorige (schließlich haben unsere Omas und Opas meistens sehr viel simpler gelebt als wir). Für meine Generation ist es außerdem total normal, wenn Lebensmittel, Spielzeug oder Bildung immer im Überfluss zur Verfügung stehen, dass militärische Konflikte nur „kalt“ geführt und Umweltprobleme (wie z.B. der Saure Regen in unseren jungen Jahren) rein technisch gelöst werden können, kein Ändern des eigenen Lebenswandels war gefordert. Für uns sind all diese Dinge gefühlte Normaliät. Die Verhältnisse der 1970-er oder 80-er geben uns ein unterbewusstes Erleben von Sicherheit.

Aber: Für den historisch größten Teil der Menschheit würde sich unser extrem hoher Standard von „Normal“ als geradezu maßlos, seltsam, ja, anormal anfühlen. Nur sehr wenige Menschen haben in den Jahrtausenden vor uns je den Luxus genießen können, den wir heute als selbstverständlich erwarten und voraussetzen. Denken wir nur mal an Ludwig den 14. und die Zahnmedizin, die ihm als König zur Verfügung stand. Da schneidet heutzutage jeder Kassenpatient sehr, sehr, sehr viel besser ab als der berühmte Sonnenkönnig. Nur ein Beispiel.

Wenn Politiker heute also ernsthaft darauf setzen, mit dem Schlachtruf „endlich wieder normal“ Stimmen fangen zu können, ist das gefährlich. Weil es das kleine Ego von Millionen als einzigen Maßstab der ganzen, großen Welt aktiviert. In unseren komplexen und bunten Gesellschaften kann das nur zu Konflikten und Spannungen führen. Ein kurzer Blick in die Geschichte populistischer Parteien und Regierungen liefert genug Beweise für diese Logik. Politik für „Normale“ liegt damit also sogar weit unter Schlagerniveau, weil es nur billige Parolen bleiben, die obendrein noch nicht mal kreativ in nette Musik verpackt werden. Persönlich hätte da lieber Rudi Carell als Kanzler. Doch der ist ja auch schon tot.

Geologisch sieht „normal“ hingegen ganz anders aus. Hier bestimmt der Durchschnitt über sehr lange Zeiträume, was normal ist. Rein geologisch wäre z.B. ein Klima normal, das sich nur extrem langsam verändert, also über viele, viele Jahrhunderte, wenn es sich überhaupt verändert. Die derzeitigen, rapiden Veränderungen sind alles andere als normal und obendrein gemeingefährlich. Wer also „endlich wieder normal“ werden will, sollte geologisch betrachtet einen stabilen Jetstream, einen starken Golfstrom, niedrigere pH-Werte in den Meeren, funktionierende Regenwälder, ordentliche Eisplatten in den Polarzonen und dergleichen mehr anstreben. Das sind die Voraussetzungen, die gemäß des Erfinders der Naturgesetze als nachhaltig funktionierend gelten und somit für uns überlebenswichtig sind. Vielleicht würde ja ein neuer Schlager à la „Wann gibt’s mal wieder echte Gletscher?“ zumindest die Skifahrer unter uns zur Rückkehr zum geologischen Normal motivieren. Aber wie gesagt, der Rudi wird ihn nicht mehr singen.

Nachtrag für Christen

Wir Christen gehen ja gerne davon aus, dass Gott „normal“ sei. Weil Kirchen im Dorf normal sind, weil unsere Gesellschaften christlich geprägt sind, weil wir auf 1700 Jahre politische Kirchengeschichte in Europa zurückblicken können. Wir glauben, das alles müsse Gott doch auch gefallen haben, und wollen deshalb in seinem Sinne wieder dorthin zurück. Ich möchte ausdrücklich davor warnen.

Gott ist eine hochexplosive Sprengladung für alles Normale. Gott ist erschreckend unnormal. Wo Gott auftaucht, werden wir sofort überwältigt, weil er in kein einziges unserer Weltbilder passt, egal, wie wir auch sozialisiert wurden. Das führt regelmäßig zu Unsicherheit und Furcht, und genau das beschreibt die Bibel fast jedes Mal, wenn Gott irgendwo auf besondere Weise in Erscheinung tritt. Ebenso Jesus. Er ist der Mann, der in kein Schema passt. Das personifizierte Unnormale. Er will einfach in keine Schublade gehen.

Gott ist obendrein unkontrollierbar. Das löst Angst aus. Doch in genau dieser Angst, jener Zone aus Unsicherheit und Furcht, wo wir die Bequemlichkeitszone der Normalität verlassen mussten, begegnet uns Gott und beginnt jedes Mal mit: Fürchte dich nicht. Wir können Gott nicht kontrollieren, aber Gott hat sich unter Kontrolle. Er wählt, uns ernst zu nehmen. Dann heilt er uns, vergibt uns oder ehrt uns. Oder alles zusammen und noch viel mehr. Wer sich in Anbetracht der oben genannten Schreckensrekorde ins Schneckenhaus der eigenen Normalität verkriechen möchte, wird dort erstens keinen Frieden finden, weil die glühende Sonne uns auch dort brutzeln wird. Zweitens verkriecht man sich gleichzeitig vor Gott und seinen übernatürlichen Möglichkeiten. Wer aber wie Gott die Welt verändern will, muss erst im Sturm und auf den Wellen gehend das Staunen lernen. Und dann staunen lassen. In Demut und Ehrfurcht. Weil auch wir Kinder Gottes in kein Schema passen. Wir sind zur Außergewöhnlichkeit berufen, Gottes Liebe und Weisheit widerzuspiegeln. Und um damit Neugierde statt Murren und Meckern zu wecken.

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