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„Stay woke!“

Ein neues Wort breitet sich in unseren Sprachen aus: „woke“. Doch merkwürdigerweise höre ich es nur von Leuten, die woke gar nicht zu mögen scheinen. Grund genug, der Herkunft und Bedeutung dieses Wortmysteriums auf den Grund zu gehen.

„Wokeness!“ sagt Markus Söder gerne in sarkastischem Ton und mit wackelndem Kopf, macht dann grinsend eine Pause, als wäre er stolz darauf, mit nur einem Wort schon alles gesagt zu haben. Der amerikanische Republikaner Ron DeSantis ereifert sich über „the woke“ und meint damit auch den Disneykonzern, mit dem er in seinem Bundesstaat Florida gerade mächtig im Clinch liegt. Eine Kollegin von mir, ziemlich konservativ, sieht im „wuhk“ , wie sie woke nach ihrem schwedischen Sprachverständnis ausspricht, ein unmissverständliches Zeichen, dass die Entrückung nun unmittelbar bevorstehen müsse. Sie habe das neulich in einer (christlich-konservativen) Zeitung gelesen.

Das Wort „woke“ nehme ich seit einiger Zeit und mit zunehmender Frequenz wahr, ohne zu wissen, warum, woher es kommt und vor allem: was es eigentlich bedeutet. Hauptsächlich scheint es durch prominente woke-Gegner verbreitet zu werden, indem sie es oft abwertend benutzen und dann in den Medien zitiert werden.

Meine ersten Nachforschungen brachten nichts Neues. Woke ist halt die Vergangenheitsform vom englischen Verb wake, also aufwachen oder aufwecken. Irgendwann fragte ich meine Frau, die ja auch ständig mit Kollegen und Patienten in Kontakt steht und obendrein jede Menge Bücher auf englisch liest. Ich wollte wissen, ob sie die Bedeutung von woke kenne. Kannte sie nicht. Nie gehört. Sie dachte erst, ich meinte die Zeitschrift VOGUE. Wir wurden neugierig. Warum macht eine englische Verbform ausgerechnet durch den fleißigen Gebrauch konservativer Kreise derartig Karriere? Wenn Christen sich aufregen, hat es ja nicht selten mit Sexualmoral zu tun, und so scheint es hier auch zu sein. Doch wie kommt ausgerechnet ein Markus Söder auf woke? Wir machten uns gemeinsam auf die Suche.

Und sieh mal einer an, was wir herausfanden.

Der Gebrauch von woke ist alles andere als eine neumodische Erfindung des 21. Jahrhunderts. Es geht zurück bis ins 19. Jahrhundert. Woke ist ein Begriff schwarzer Communities in den Vereinigten Staaten. In deren Sprachgebrauch wurde es nämlich anstelle von woken, also erwacht oder erweckt benutzt. Woke wurde mit der Zeit eine Alternative für das Adjektiv awake, wach oder erwacht. Was man damit aber eigentlich meinte, war eine hohe Wachsamkeit für Rassismus und die Diskriminierung von Schwarzen in einer von Weißen dominierten Gesellschaft. Es ging darum, Willkür und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. „Bleib wachsam!“ oder „Stay woke!“ wurde zur gegenseitigen Ermahnung, selbst in Liedtexten schwarzer Musiker, vor allem in den 1930-er Jahren. In den frühen 2010-er Jahren kam der Hashtag #staywoke auf, immer noch vor allem auf Rassismus gegenüber Schwarzen bezogen. Später wurde die Bedeutung auch auf andere Systemschwächen ausgeweitet, die globale Ungerechtigkeiten verursachen, etwa Kolonialismus oder Postkolonialismus.

Auch wenn woke heute mehr als Schimpfwort von z.B. Deutschen wird, die kein Gendern mögen, so wurzelt der Begriff trotz aller sprachlichen Holprigkeit erstaunlich tief in christlichen Werten. Und das nicht nur wegen der sprachlichen Anspielung auf awakening oder Erweckung. Schlummer und Wachsamkeit werden immer wieder in der Bibel erwähnt. „Bleibt wachsam!“ sind offene, eindringliche und wiederholte Mahnungen direkt aus dem Munde Jesu (z.B. Markus 13 oder Mattäus 25). Jesus war vermutlich der Aufgeweckteste und Wachsamste von allen. Ständig setzte er sich gegen Ungerechtigkeit ein, gab Ausgegrenzten ihre Würde oder Stellung in der Gesellschaft zurück. „Stay woke!“ könnte durchaus eine kontextualisierte Übersetzung des Wachsamkeitsaufrufes Jesu sein gegen korrupte Bedrohungen.

Ich möchte also auch künftig vorsichtig bleiben, welche Begriffe ich wie in den Mund nehme und welche nicht. Ich möchte nämlich nicht mit modernen Pharisäern in einen Topf geworfen werden. Die könnte man sich durchaus gut vorstellen, wie sie da stehen, Jesus beobachten und sein Handeln mit einem sarkastischen „Wokeness!“ kommentieren. Für die frühen Pharisäer war es schließlich auch ein unmissverständliches Zeichen, dass dieser Typ Jesus zwar nicht entrückt, aber entsorgt gehört. Hatten sie bestimmt auch in ihren eigenen, konservativen Blättchen gelesen.

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