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2) Nachfolge und Gegenwart

Vortrag Nummer zwei der Gemeindefreizeit 2023 der FeG Ingolstadt zum Anhören oder Nachlesen.

Hallo!

Das ist der zweite Vortrag auf der Gemeindefreizeit am 1. Juli 2023, auch zum Thema „Du musst dein Ändern leben“, diesmal mit Fokus darauf, wie wir heute in unserem Zeitalter mit all seinen Herausforderungen und Möglichkeiten Menschen zur Nachfolge animieren können.

Eine Frage, die mich seit Jahrzehnten umtreibt ist nämlich: Warum wollen heute nur so wenig neue Menschen Jesus nachfolgen? Warum schrumpfen Kirchen und Gemeinden, warum gibt es viel zu wenig Bekehrungen?

Das einst so christliche Europa ist säkular geworden. Dafür gibt es viele gute und nachvollziehbare Gründe, die euch ja auch nicht unbekannt sind. Warum aber erlebt die große Allgemeinheit die so genannte „Gute Nachricht“ nicht mehr als was wirklich Gutes? Warum wurde aus der Guten Nachricht eine langweilige Nachricht, eine nervige Nachricht oder überhaupt gar keine erwähnenswerte Nachricht mehr? Im besten Fall sieht man Kirche vielleicht noch als historischen Kulturschatz, den es zu bewahren gilt. Aber was ist Evangelium heute? Besäße die Bibel das Potenzial, auch heute noch einmal zu einem Lauffeuer zu werden, wie es in den ersten Jahrhunderten nach Christus im antiken Rom der Fall war? Ich persönlich glaube: Ja, das hat die Bibel durchaus. Wie aber im ersten Vortrag schon angesprochen, ist es gerade in unserer Zeit dringend notwendig, sich der Filter und Interpretationsmechanismen bewusst zu werden, die wir Bibelleser automatisch anwenden, wenn wir dieses Buch aufschlagen. und wir sind es gewohnt, das Evangelium mit nur einer Brille zu lesen, und die ist oft auch noch sehr gefärbt. Aus diesem Grund werden wir in diesem Beitrag das Evangelium mit drei verschiedenen Brillen lesen, und was ich damit meine, ist, das Evangelium aus drei kulturell ganz verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das soll uns helfen, um uns unserer eigenen Interpretationen bewusster zu werden.



Im Grunde treffe ich jeden Tag Menschen, die sich vom christlichen Glauben abgewandt haben. Entweder war das deren bewusste Entscheidung, weil man z.B. in jüngeren Jahren Teil einer Gemeinde war, dort schlechte Erfahrungen gemacht hat und sich irgendwann entschied, die Gemeinde und damit den Glauben hinter sich zu lassen. Oder es war gar keine bewusste Entscheidung, man ist einfach nur im Strom der Masse mitgeschwommen, die sich im Laufe der Zeit immer weiter säkularisierte, und das Leben, wie es in dieser Gesellschaft eben ist, hat dann viele Werte oder Entscheidungen übernommen. Außerdem trifft man gerade hier im Nordosten Göteborgs, wo ich lebe, sehr viele Leute, die nie Christen waren, weil sie ganz andere religiöse Hintergründe haben. Es ist also nichts ungewöhnliches, hier typisch muslimische gekleidete Männer und Frauen, Turbane oder Bindis zu sehen, das sind die roten Punkte auf der Stirn von z.B. Hindus. Alle diese Leute haben interessanterweise aber eins gemeinsam: Sie sind selten gegen das Christentum oder unseren Glauben an sich. Manchmal hat man zu Recht viel Kritik, doch die Tür ist selten ganz verschlossen. Die meisten halten das Portal des Interesses einen mehr oder weniger kleinen Spalt breit offen. Dann ist es unsere Aufgabe, diesen Spalt ein wenig größer werden zu lassen, die Tur ein kleines Stück aufzustoßen indem wir ein bisschen Neugierde schaffen. Wir wollen in diesen Menschen neues Interesse säen. Das geht selten, indem man alte Vorurteile bestätigt, wie man sich denken kann. Auch das schmettern von Bibelversen über Gericht und Hölle ist in der Regel kontraproduktiv – obwohl, das muss man auch ehrlich sagen das weise Zitieren der Bibel im richtigen Moment durchaus angebracht oder sogar sehr kraftvoll sein kann). Vor allem gilt es, Menschen kurz und knapp und vor allem liebevoll zu überraschen. Wenn jeder von uns nur einmal in der Woche einen Mitmenschen überraschen würde und wenn wirklich jeder das täte, würden wir ganz viele Minisamenkörner säen, die sich mit der Zeit gegenseitig verstärken. Jesus überraschte die Menschen auch ständig auf völlig unerwartete Weisen. In meinem Beitrag „Was ist Wahrheit?“ vom 3.12.2021 erzähle ich z.B., wie wir genau das bei Tro & Tvivel u.a. mit unserer anonymen Podcasthörerschaft versuchen, indem wir im Grunde predigen, ohne zu predigen. Wir halten das in Gesprächsform mit unterschiedlichen Gästen, wo man das Gefühl hat, man könnte mitreden und eine Frage stellen, die dann gehört und ernstgenommen wird. Wir müssen den Zuhörer, unser Gegenüber abholen, wo sie oder er heute steht. Oft geht das nur, indem wie die erlebten Lebensgefühle, die ja jeder in der Seele mit sich herumschleppt, stellvertretend in Worte kleiden, um eben das Gefühl zu vermitteln, man ist verstanden, als sei man selbst Teil des Gesprächs. Dialog ist ganz, ganz wichtig, die Seele muss sich sicher fühlen. Das erfordert viel Sensibilität, auch Menschenkenntnis, Barmherzigkeit, und ebenfalls gute Kenntnis der großen und aktuellen Themen in der Welt sowie eine gute Theologie. Alles was wir tun und sagen – oder nicht tun und nicht sagen – wurzelt in unseren theologischen Überzeugungen. Theologie klingt für viele nach alten, dicken und völlig unverständlichen Büchern. Aber Theologie muss alltagsnah sein. Wenn Theologie beim Hausputz oder Großeinkauf keine Role spielt, ist sie wertlos. Heute versuche ich zu erklären, wie sich meine Theologie aus all diesen vielen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen entwickelt hat.

Der Missiologe Andrew Kirk schreibt in seinem Lehrbuch „Was ist Mission?“

Der Satz ist wichtiger, als man meinen sollte. Jedes Zeitalter, jede Generation von Christen oder Gemeinden ist einzigartig. Das Evangelium muss in jede Zeit neu übersetzt, im Grunde neu entdeckt oder sogar „erfunden“ werden. Das ist anstrengende Arbeit. Sind wir nicht bereit, diesen Aufwand auf uns zu nehmen, was passiert dann? Nun, dann geben wir uns behäbig mit dem Evangelium früherer Generationen zufrieden. Und dann passiert es eben, dass mancher Evangelist heute Antworten auf Fragen predigt, die man vor 500 Jahren hatte. Diese Antworten und Gedanken sind nicht falsch und beruhen oft auf guter Theologie. Sie haben nur wenig mit den existenziellen Fragen zu tun, für die junge Leute heute auf die Straßen gehen. Dann darf man sich auch nicht wundern, wenn niemand mehr in die Kirche kommt. Amüsanterweise fassen manche Christen sich dann aber eben nicht an die eigene Nase, sondern beschuldigen die jungen Leute, dass sie viel zu wenig Interesse für die Fragen von vor 500 Jahren aufbringen. Das ist etwas überspitzt ausgedrückt, trifft den Nagel aber dennoch ganz gut. So kann man nicht arbeiten.

Dieses Bild zeigt nur ein paar Beispiele dafür, wie sehr sich unser Alltag allein in den vergangenen 150 Jahren oder so verändert hat. Unser heutiger Alltag ist vollgepackt mit Selbstverständlichkeiten, von denen vor 200 Jahren noch nicht einmal ansatzweise die Rede war.

Nehmen wir nur mal die Kopfschmerztablette bis hin zur Anästhesie zur schmerzfreien Durchführung medizinischer Operationen.

Die Bedeutung einfacher Hygienemaßnahmen,

eine ganz neue Mobilität durch Erfindungen wie das Auto oder Flugzeug,

Einsteins Relativitätstheorie

oder die moderne Psychologie.

Unser Alltag hat mit dem Alltag Martin Luthers so gut wie gar nichts mehr zu tun.

Und ob man es glaubt oder nicht, so beeinflussen diese Veränderungen auch unsere Deutung dessen, was wir „Evangelium“ nennen. Ich möchte dies an einem Beispiel aus dieser Kollage verdeutlichen,

der Urbanisierung oder Verstädterung.

Die Bildung moderner Großstädte, wie wir sie heute kennen, war ein Prozess, der erst relativ spät, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jh in den USA begann. Bis dahin waren die meisten Städte der Welt eher klein und überschaubar gewesen, und der allergrößte Teil der Menschheit lebte sehr ländlich. Im 19. Jahrhundert aber begannen die Menschen in Amerika, auf der Suche nach Glück und Wohlstand massenhaft vom Land in die Stadt zu ziehen. Die Städte konnten kaum mitwachsen. 

Glück und Reichtum fanden aber nur sehr wenige, die meisten strandeten in großer Armut. Stellt euch vor: Das war eine Zeit ganz ohne Sozialämter,  Arbeitslosenversicherung oder Krankenversicherung. Diese Zustände können wir uns nicht vorstellen. Dann kam ein deutscher Baptistenpastor, Walter Rauschenbusch auf die Frage: What would Jesus do?, was würde Jesus in dieser Situation tun? (Die Frage von den früher mal so beliebten Armbändchen stammt also ursprünglich aus einer noch viel früheren Zeit.)

Wir müssen den Menschen helfen, dachte Rauschenbusch. Sie brauchen dringend Essen, medizinische Versorgung, Arbeit – und dafür brauchen sie Bildung. Wir brauchen also Schulen. Für Rauschenbusch erschien das als die beste Weise, der Welt vor der der Tür seiner Baptistengemeinde die Liebe und Fürsorge Jesu widerzuspiegeln, indem man eben Essen verteilt, Schlaf- und Waschräume zur Verfügung stellt, Schulen und Krankenhäuser baut.

Aber viele andere Christen waren nicht so recht einer Meinung mit ihm. Die sagten: Ach Quatsch! Das ist doch alles nur ein soziales Evangelium. Biblisch gesehen ist das völlig wertlos. Beim wahren Evangelium geht es schließlich um die Rettung der Seele und nicht um die Versorgung sozial schwacher Leute in halbfertigen Großstädten! 

Als Reaktion auf dieses sogenannte ”soziale Evangelium” für die Armen veröffentlichten diese ”bibeltreuen” Christen, als die man sich sah, Anfang des 20. Jahrhunderts eine umfassende Serie aus Schriften, die das Evangelium aus deren Sicht beschrieb. Die Serie hieß: The Fundamentals, also das Fundamentale. 

Die Rolle der Bibel wurde als superwichtig hervorgehoben. Auch die Jungfrauengeburt Marias war sehr wichtig. Der Kreuzestod Jesu und die damit verbundene Sündenvergebung spielte natürlich eine zentrale Rolle. und vieles mehr.

Eigentlich ist das, was darin geschrieben steht, ist gar nicht so schlecht. Genauso, wie das, was Rauschenbusch gemacht hat, eigentlich auch gar nicht so schlecht ist. Das Problem war, dass nun ein erbitterter Streit darüber entflammte, wer hier im Recht ist. Waren es die Anhänger Rauschenbuschs mit ihrem sozialen Evangelium? Waren es die sogenannten ”Bibeltreuen” – Anhänger der so genannten Fundamentals? Was ist das Evangelium? Jeder glaubte, wir haben Recht, die anderen nicht. Das führte zu viel Polemik und Polarisierung. Man beschimpfte sich, machte sich übereinander lächerlich. Als Folge trieb dieser Streit beide Seiten immer weiter auseinander. 

Aus Rauschenbuschs Seite entwickelte sich schließlich die Liberaltheologie. Aus der anderen Seite die Fundamentalisten – daher haben wir das Wort. Erst in den 1970-Jahren hat man mit der Lausannebewegung versucht, beide Seiten miteinander zu verknüpfen. Das Ergebnis waren die Evangelikalen mit dem Versuch einer ganzheitlichen Theologie, die sich ganzheitlich sowohl um Seele als auch um den Körper kümmert. 

Das ist zwar ein offensichtliches Beispiel, wenn es um die Frage geht: Was ist das Evangelium? Hier wurde genau diese Frage ganz offen diskutiert. Dennoch ist es nur ein Beispiel. All die anderen großen Gesellschaftsveränderungen haben unser Weltbild, unser Gottesbild, unser Bibelverständnis, die Rolle religiöser Institutionen und vieles mehr enorm beeinflusst. Heute bestehen völlig andere Erwartungen an Leben und Gesellschaft als es 1801 oder 1555 üblich war.

Mit Blick auf Andrew Kirks Zitat vom Anfang, das jede Generation Christen ihre eigenen, einzigartigen Herausforderungen zu bewältigen hat, sollten wir uns ruhig von unseren Vorfahren inspirieren lassen, wie sie mit den Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit umgegangen sind.

Wofür sollte unsere Generation Gläubige in die Geschichte eingehen?

Wir könnten uns z.B. von jenen Mönchen inspirieren lassen, die fanden, Gott müsse schöner angebetet werden. Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten hatten sie die Idee, ihre Lieder im Gottesdienst mehrstimmig zu singen, aber irgendwie klappte das nicht so richtig. Also erfanden sie ein System mit Linien und kleinen Punkten auf Papier. Daraus wurden später die uns bekannten Noten. Es waren Christen, die Musikgeschichte geschrieben haben.

Andere Schwestern und Brüder früherer Zeiten litten daran, ansehen zu müssen, dass es so unglaublich viel Leid und Krankheit gab. Anstatt Gott alles Böse in die Schuhe zu schieben, waren sie überzeugt, dass Gott den Kranken und Schwachen doch nahe sein will. Also machten sie sich selbst als Gottes Stellvertreter auf den Weg, um Kranken Trost zu spenden oder sie zu pflegen. Sie legten damit den Grund für unsere modernen Gesundheitssysteme, die wir heute alle für selbstverständlich hinnehmen. 

Anderen Geschwistern war es ein Dorn im Auge, dass so viele Menschen keine Möglichkeit hatten, die Bibel selbst zu lesen, weil sie gar nicht lesen und schreiben konnten. Schon lange vor Walter Rauschenbusch setzte man sich daher für Bildung ein. Missionare entwickelten das kyrillische Alphabet, um Menschen die Bibel nahebringen zu können. Christen waren historisch maßgeblich daran beteiligt, dass unser heutigen Bildungssysteme leisteten. In der Weltmission ist es bis heute noch so.

Es gibt viele solcher Beispiele. Die große Frage, die unsere Vorfahren an uns richten und uns damit herausfordern, lautet: Wofür wollt ihr bekannt werden?! Wie wollt ihr Gott in den euch gegebenen Zeiten und Herausforderungen ehren und wieder ein Stück Geschichte schreiben?

Theologie, die erweitert

Wie können wir in der Welt von heute und morgen Salz sein, das wirklich würzt? Licht, das wirklich leuchtet? Im ersten Vortrag sahen wir, dass ein Mangel an konkreter, prophetischer Vorstellungskraft uns fad und phantasielos machen kann. Wir haben dort viel Stoff betrachtet, aktuellen Weltthemen wie der WEF-Risikobericht und vieles mehr – doch diese Dinge sind nur die Spitze des Eisbergs. Es betrifft den sichtbaren Teil unserer Arbeit, unserer Kommunikation, unseres öffentlichen Zeugnisses. Damit dieser Teil groß und gut erkennbar ist und stabil durch die Meere schwimmt, braucht unser Eisberg viel Masse unter der Oberfläche. Das ist und bleibt für uns Christen unsere Theologie. Sie muss maßgeblich unsere Werte, unser Denken und handeln steuern. Heute möchte ich aber zeigen, dass sogar die beste Theologie manchmal zu klein sein kann und dann einen ähnlich negativen Effekt hat wie fehlende Vorstellungskraft. Manchmal sind wir nämlich so sehr in unserer Sprache gefangen, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.

Wir merkten das, als wir 2006 mit dem Auftrag nach Schweden kamen, neue Ansätze für Gemeinden in einer veränderten Welt zu entwickeln. Da war gerade der schwedische Film „Wie im Himmel“ durch die Kinos gegangen. Der Film handelt von einem weltberühmten Dirigenten, der in sein kleines Heimatdorf zurückkehrt und unkonventioneller Kirchenchorleiter wird. Die Kernaussage des ganzen Films wird in einem Streitgespräch zwischen der Pfarrersfrau und ihrem Mann dargestellt. Sie wirft ihm an den Kopf: „Es gibt keine Sünde! Es war die verdammte Kirche, die die Sünde erfand! Mit der einen Hand teilte sie nämlich Sünde aus, um gleich darauf mit der anderen Vergebung anzubieten, alles nur, um ihre Macht zu erhalten!“ Und wir merkten in den ersten Jahren ziemlich deutlich: Das war tatsächlich die Überzeugung erstaunlich vieler Schwedinnen und Schweden. Das ganze Konzept von „Sünde“ sah man als überholt an.

Wenn es aber keine „Sünde“ gibt, wozu braucht man dann überhaupt Vergebung? Außer, man hat wirklich schwere Vergehen auf dem Gewissen? Was bleibt dann vom Kreuzestod Jesu übrig? Das ganze Evangelium fühlt sich altmodisch und irrelevant an. Wie eine Brücke aus alten Zeiten – nur, dass der Fluss mittlerweile ganz woanders fließt und sie als altes Monument, faszinierend aber zwecklos, auf dem Trockenen steht.

Die Frage nach dem Evangelium in „sündlosen“ Gesellschaftem hat mir also lange zu schaffen gemacht. Ich war mir sicher, dass es doch noch mehr am Evangelium der Bibel geben muss. Etwas Anderes, Unentdecktes, etwas Relevantes, das auch in unsere Zeit spricht. Jesus wäre es ganz zweifellos gelungen, die Menschen auch heute noch mit seinen Reden und Geschichten zu überraschen. Warum wirken wir dann wie alte Moorleichen? Jeden Stein drehte ich um, suchte hinter jedem Baum, las Bücher und Bibel, diskutierte mit Kollegen. Doch wonach ich suchte, wollte sich lange nicht entdecken lassen. Zum Glück gab ich nicht auf. Erst nach vielen Jahren begann der Nebel sich langsam, ganz langsam zu lüften. Ich begann zu ahnen, dass unser Verständnis von Sünde zu schmal ist. Und irgendwann fand ich Jayson Georges Buch „The 3D Gospel – Ministry in Guilt, Shame, and Fear Cultures“, das meine eigenen Entdeckungen perfekt strukturierte. Vieles ergab jetzt viel mehr Sinn. Vor allem bestätigte sich, dass Sünde viel mehr ist als ich dachte. Entsprechend ist auch das Evangelium viel größer, als ich geglaubt hatte. Es hat wirklich zu jedem etwas zu sagen.

Was nun also folgt, ist ein Crash-Kurs dessen, was sich über Jahre entwickelt hat. Ich verstehe, wenn das alles neu und ungewohnt ist, sich vielleicht sogar merkwürdig anfühlt. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen möchte ich es euch nicht vorenthalten. Ich werde nun dasselbe Evangelium aus drei verschiedenen Winkeln vorstellen bzw. gemäß drei verschiedener Narrative erzählen. Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, eine große Geschichte, die viele kleine Dinge verbindet und ihnen Zusammenhang und Bedeutung verleiht. Nach jeder Erzählung werden wir das Evangelium analysieren. Lasst euch überraschen.

Bitte hör dir die erste Version aufmerksam an. Im Film kannst du den Text auch mitlesen.

Das Evangelium, wie wir es kennen



alternativ auch nur zum Hören:


Diese uns wohlbekannte Version stellt das Evangelium im Großen und Ganzen wie eine Gerichtsverhandlung dar. Unser Gottesbild ist das des Gesetzgebers und Richters. Sünde ist der Bruch eines Gesetzes oder göttlicher Regeln. Das große Problem wird damit, dass wir falsch gehandelt haben, falsch handeln und falsch handeln werden, und deswegen erleben wir Schuld oder ein schlechtes Gewissen. Somit wird Luthers Frage verständlich: Wie können mir meine Sünden vergeben werden? Die Welt bietet als mögliche Antwort eine gute Moral oder gute Taten, die die negativen wohl schon aufwiegen werden. Die Bibel sagt, das reicht nicht. Wir brauchen Jesus, der die Strafe für unsere Vergehen auf sich nimmt. Das macht Vergebung und damit Rettung vor einer furchtbaren Strafe möglich. Für Anhänger dieser Theologie ist es ethisch wichtig, Gott und anderen Gutes zu tun, weil Taten nach wie vor zentral sind, auch wenn sie nicht zur Rettung beitragen. Historisch hat sich diese Theologie vor allem im Norden und Westen der Welt ausgebreitet und durchgesetzt.

So weit, so gut. Ich denke, die meisten von euch würden dem weitestgehend zustimmen und sagen: Das ist hundertprozentig richtig! Genau, es ist vollständig wahr. Aber nicht die volle Wahrheit. Es ist nur ein Teil vom Ganzen. Kann man sich ein Evangelium vorstellen, dass dieselbe Geschichte erzählt, genauso biblisch und tiefgründig ist, in dem das Wort „Vergebung“ aber kein einziges Mal vorkommt?

Lass dich überraschen.



alternativ auch nur zum Hören:


Jemand kommentierte spontan auf diese Version: „Klingt wie Star Wars…“ Genau!

Plötzlich verwandelt sich das Evangelium von einer Gerichtsverhandlung zu einem Gefecht zwischen Gut und Böse. Gott ist plötzlich gar kein Richter mehr, sondern ein souveräner Herrscher und Befreier. Sünde hat nichts mehr mit Gesetzesbruch zu tun, sondern beschreibt die eigene Winzigkeit und Verletzbarkeit. Das Hauptproblem ist, dass man sich fürchtet vor dem Ausgesetztsein, man spürt die ständige Angst und Unruhe, die ewige Hilflosigkeit, ein Spielball größerer Gewalten und Ereignisse zu werden. Luthers Frage spielt keine Rolle mehr, stattdessen denkt man pausenlos darüber nach, wie man sich vor Verletzungen schützen kann. Die Welt bietet da ihre eigenen Methoden, zum Beispiel diverse Versuche, Machthaber zu seinem eigenen Vorteil manipulieren zu können. In manchen Erdteilen und Kulturen geschieht das durch Zauberei oder Magie, in anderen mittels Geld und Wirtschaftskraft. Jesus wird hier derjenige, der alle bösen und korrupten Mächte ein für alle Mal besiegt, die auf mannigfaltige Weise den Schwachen auf der Nase herumtanzen. Errettung wird damit zu einem ungeahnten Freiheitserlebnis, weil man die „Macht“ erhält, Gottes Kinder zu werden (Johannes 1,12). Die pfingstlerische Theologie bedient sich öfter dieses Modells und das ist ein Grund, warum sich Pfingstgemeinden in den vergangenen Jahrzehnten ganz enorm auf der südlichen Halbkugel der Erde ausgebreitet haben. Das Narrativ von Furcht und Macht spricht exakt deren Sprache.

Diese Version klingt ungewohnt in westlichen Ohren. Manche neigen dazu, es zwar als „richtig“, aber „nicht richtig als das Evangelium“ anzuerkennen. Das ist sehr verständlich. Ich möchte aber entgegenhalten, dass z.B. viele Christen Afrikas oder Lateinamerikas dasselbe über uns sagen. Man ist dort sehr dankbar über die Missionare, die dort jahrelang gewirkt und gepredigt haben. Doch heute, wo deren Glaube gereift ist, kommen sie zu dem Schluss, dass eben jene Missionare zwar richtig, aber nicht richtig das Evangelium gepredigt haben. Lassen wir uns also herausfordern. Denn unser Ziel ist es, eine solide, theologische Basis für ein plastisches Zeugnis in der heutigen und morgigen Welt zu schaffen.

Bist du bereit für noch eine Erzählung des Evangeliums, in dem das Wort „Vergebung“ kein einziges Mal vorkommt?!

Lass dich überraschen.



alternativ auch zum Hören:


Irgendwie bewegen mich diese Geschichten selbst immer wieder neu, obwohl ich sie schon so oft erzählt, übersetzt, unterrichtet habe. Es gibt mir persönlich eine kleine Ahnung dessen, wie gut Gott ist, und wie groß die biblische Geschichte. Es bringt mich immer wieder neu ins Staunen, und das ist es vielleicht, was Gott will: Das wir über seine Güte staunen.

Von der Starwars-Geschichte verwandelt sich das Evangelium nun zu einem königlichen Familiendrama auf höchster Ebene. Gott ist irgendwie immer noch ein Herrscher, aber eher ein Familienoberhaupt, ein Vater und Gönner, prächtig, mächtig, reich und gut. Sünde ist, dass jemand es wagt, diesen ehrenvollen Status mit Unehre zu beschmutzen, was zu Ausschluss und Scham führt. Das Problem ist nicht, dass man falsch gehandelt hat, sondern dass irgendwas mit mir nicht stimmt, ich bin falsch, ich passe nicht mehr in diese Familie, ich bin das schwarze Schaf. Und das ist auch das gefühlte Problem: Ich passe nicht dazu, ich bin abgelehnt, kurz: Scham. Die ganze Identität ist betroffen und aus Luthers Frage wird hier: Wie werde ich wieder in die Gemeinschaft aufgenommen? Auch hier bietet die Welt wieder ihre eigenen Methoden: Dicke Häuser, Boote, Autos, Statussymbole, teure Marken, viele Follower, einen guten Ruf. Interessant ist hier die Rolle Jesu: Er trägt nicht nur die Blamage des menschlichen Geschlechts, er übernimmt auch die Unehre Gottes am Kreuz. Errettung bedeutet, ein neues Gesicht zu erhalten. Das alte ist vergangen, man wird wieder geehrt. Und die hauptsächliche Ethik dieser Version des Evangeliums ist es, Gott und andere Menschen mit Ehre zu überhäufen. Viele Kulturen in den östlichen Teilen der Welt sind solche Ehrenkulturen. Leider gibt es keine wirklich gut entwickelten Theologien dazu – wir dürfen hoffen und beten, dass dies unseren asiatischen Geschwistern gelingen wird.

Hier sehen wir alle drei Versionen nebeneinander. Wenn du sie dir so anschaust und ich dich frage, wovon die Bibel am meisten spricht, was würdest du spontan antworten? Bevor wir nach Schweden gingen, hätte ich ohne zu zögern gesagt: „Ist doch logisch! Von Schuld, Gericht, Strafe und Vergebung.“ Tatsache ist aber, das das Metapher des Kampfes rein sprachlich in der Bibel mit großem Abstand am meisten verwendet wird. Außerdem entstand die Bibel nicht in einer westlichen Schuldkultur, sondern einer typischen Ehrenkultur. Dort kommuniziert man ganz anders als bei uns. Mit anderen Worten: Die Bibel ist nicht wirklich unser Buch.

Die Bibel – so wichtig sie war in der Formung der europäischen Identität und vieler westlichen Kulturen, ist nichts, was wir hier in Europa hervorgebracht haben. Die Bibel entstand in einer Welt, von der wir sehr wenig Ahnung haben. Wir können natürlich die Sprache übersetzen, wir können Worte benutzen wie ”Vater”, ”Mutter”, oder ”Haus”, aber wir haben nur wenig Verständnis davon, was solche Begriffe denen bedeuteten, an die sie ursprünglich gerichtet waren. Das heißt nicht, dass die Bibel nicht auch heute noch Menschen anspricht, die von Kirche oder Theologie keine Ahnung haben. Die Gideon’s haben z.B. mehr als genug Geschichten, wie völlig kirchenferne Menschen von der Bibel wie vom Blitz getroffen werden. Es bedeutet aber, dass wir in der westlichen Welt die Angewohnheit haben, biblische Texte mit unseren westlichen Brillen zu lesen und zu interpretieren und gleichzeitig auch noch zu glauben, das sei die einzig richtige, die ”biblische” Methode der Bibelauslegung. Denn dabei geht uns sehr viel verloren. Kulturell gesehen ist die Bibel nicht unser Buch. Sie wurde nicht von Martin Luther verfasst. Wir haben gerade schon gesehen, für wieviel wir völlig blind sind. Die biblischen Geschichten und Bücher spielen sich vor allem anderen in einer Kultur der Ehre ab. Das ist der wichtigste Dreh- und Angelpunkt zum besseren Verständnis der biblischen Botschaften. Die Bibel handelt nicht von einer individualistischen Kultur. Alles dreht sich um Gemeinschaft, Beziehung, Vertrauen, Respekt, Identität und so weiter.

Wer das versteht, wird erleben, dass die Bibel noch viel, viel reichhaltiger ist, als man es ohnehin schon dachte. Es wird deinen Glauben fördern und deine Beziehung zu Gott neu beleben. Es ist, wie an einen Platz zu kommen, wo man früher schon mal war –  aber plötzlich sieht man alles mit neuen Augen. Wie einen Film sehen, den man eigentlich schon kennt, doch plötzlich entdeckt man ganz neue Zusammenhänge und Details in der Geschichte. Wie ein Buch zum zweiten Mal lesen, doch beim zweiten Mal ist dasselbe Buch viel, viel besser, als beim ersten Mal. 

Wir können das heute nicht umfassend behandeln, das wäre ein Thema für mehrere Gemeindefreizeiten. Aber ich möchte euch neugierig machen.Ich möchte ein Samenkorn in eure Herzen und Seelen pflanzen, das irgendwann aufgeht und Frucht bringt. 

Das sind nur ein paar Beispiele, wie sich die Kulturen unterscheiden. All das prägt unser Denken. Wie wir lesen. Interpretieren. Schlussfolgern. Predigen. 

Ich bin mir dessen bewusst, dass diese drei verschiedenen Interpretationsweisen desselben Evangeliums befremdlich und faszinierend zugleich sein können. Deshalb möchte ich euch zwei kleine Erinnerungen oder Aufforderungen mit auf den Weg geben.

Erstens, lasst euch Zeit. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, um es in deinem eigenen Takt besser verstehen zu lernen. Setz dich nicht unter Druck. Es muss wachsen, und keine Pflanze wächst schneller, wenn man daran zieht.

Zweitens, vergiss die Thematik nicht, nur, weil sie neu, unbekannt oder sogar unbequem sein kann. Geh immer wieder dorthin zurück, schau es dir an, erinnere dich an das, was du schon verstanden hast. Bitte Gott, dir mehr zu zeigen. Lies die Bibel und mach Notizen, wo du neue Perspektiven des Evangeliums entdeckst. Sei bereit, dich überraschen zu lassen, damit du selbst wieder zur Überraschung werden kannst.

Abschließend…

… möchte noch etwas überspitzt, aber dennoch zutreffend ausdrücken, dass wir uns im Westen mit der einfachsten und primitivsten Version des Evangeliums zufrieden geben. nämlich der von Schuld und Vergebung. Vergebung ist gewiss eine Riesensache, das haben wir alle erlebt. Unser Verständnis von Sünde einzig als falsche Handlungen hat aber auch der Säkularisierung Tür und Tor geöffnet, schließlich kann man auch ohne Kirche ein guter Mensch sein. Das war ein Grundgedanke der Aufklärung. Deswegen kämpfen wir heute, mit der Bedeutungslosigkeit des Evangeliums in säkularen Gesellschaften.

Weitaus schwerwiegender als Sünde ist es, die Hoffnung zu verlieren

– an diese christliche Glaubenstradition erinnert Peter Halldorf in seinem Buch Därför sörjer jorden, wobei er Sünde im klassisch-westlichen Sinne meint und sagt weiter:

Wer fällt, kann immer wieder aufstehen und Vergebung erhalten. Siebenmal siebzigmal. Aber was bleibt demjenigen, der die Hoffnung verliert?

Peter Halldorf

Viele junge Leute sind im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends nach Christus völlig überwältigt von Perspektiven-, Zukunfts- und Hoffnungslosigkeit. Sehr viel davon wurzelt in berechtigter Angst und Panik vor der Klimaentwicklung der kommenden Jahrzehnte und in Wut über die Untätigkeit der wirklichen Machthaber. Hier eröffnet uns das Evangelium als Kampf neue Perspektiven, eine neue Relevanz, eine neue Sprache. Sie erinnert uns aber auch an die Gefährlichkeit des Evangeliums: Kampf ist kein Kaffeekranz. Jesus brachten seine ständigen Provokationen ans Kreuz. Vielleicht sind z.B. die viel diskutierten und manchmal als „Terroristen“ betitelten „Klimakleber“, wenn auch nicht notwendigerweise mit ihrem Weltbild, so doch mit ihrer provokativen Lebensweise Jesus heute ähnlicher als mancher Sofachrist.

Ebenso kämpft eine erschreckend große Menge heutiger Menschen mit ihrem Selbstbild, ihrer Identität, Fragen wie „Wer bin ich?“ oder „Tauge ich zu etwas?“. Man fühlt sich nicht schlau, schön, reich, lustig, sportlich genug und versucht dies auf alle mögliche Weise zu „behandeln“ man werfe nur einen Blick in die Sozialen Medien, die Schönheitsindustrie oder den Drogenkonsum. Das meiste davon wurzelt in Scham, dem schmerzhaften Gefühl, isoliert, ausgegrenzt und nicht gut genug zu sein. Hier eröffnet uns das Evangelium als Familie neue Perspektiven, eine neue Relevanz, eine neue Sprache. Es erinnert uns aber auch an das Konfliktpotential des Evangeliums: In dieser Familie dürfen Menschen der unterschiedlichsten Herkunft am Tisch sitzen, weil sie alle vom selben Vater adoptiert wurden. Dort kann es Kommunikationsprobleme und Kulturkollisionen geben, und es ist aller Aufgabe, diese zu bewältigen, indem wir uns gegenseitig ehren, z.B. indem wir uns aufmerksam zuhören und zu verstehen versuchen, siebenmal siebzigmal, wenn es sein muss. Auch das ist nicht einfach und fordert uns heraus. Doch ich glaube, gerade in diesem Prozess kann die Gemeindefamilie zu echtem Salz, Licht und Vorbild werden, wenn etwa die EU die Meinung vertritt, man müsse sich vor allem Fremden schützen.

Das sind nur zwei Beispiele. Nun spiele ich dir den Ball zu. Was wären deine Antworten auf Fragen wie:

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