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„Was ist Wahrheit?“

Unsere Podcasts sind wie Predigten zu einem anonymen, aber großen und interessierten Publikum. Warum man gerade deshalb nicht predigen darf.

* * *

Da sitze ich also und bereite mich auf die heutige Podcastaufnahme vor. Gleich werden wir die „Suche nach Wahrheit“ mit einem in der Szene bekannten Theologieprofessor und Buchautor diskutieren.


So lange in einer kirchenmüden Generation noch geistliche Neugier besteht, ist unser Auftrag hier nicht erfüllt.


Die meisten in unserer wachsenden Hörerschaft sind spirituell interessierte Frauen und Männer. Eine Art suchende Spezies. Manche sind Teil einer Gemeinde, andere waren es mal. Der Rest hat mit Gemeinde nichts am Hut. Doch alle vereint, dass sie den üblichen Gemeindeformen recht kritisch gegenüberstehen. Vor allem haben sie genug von rechthaberischen Christen, die gerne schulmeisternd „Wahrheit“ predigen, alles begriffen zu haben scheinen, erhaben über allen Zweifeln stehen und mit kritischem Hinterfragen nur schwer umgehen können. Derer gibt oder gab es offenbar zu viele, deshalb ziehen viele es vor, vorsichtig und auf freundlichem Abstand zu den meisten Christen zu bleiben. Es besteht eine spürbare Sorge über möglichen Machtmissbrauch, Sektiererei, geistlichen Missbrauch, Manipulation oder allem zusammen. Was nämlich die Freikirchengeschichte angeht, so haben sich leider genau solche Sachen ins kollektive Gedächtnis geprägt. Gott sei Dank hält das unsere Hörer aber nicht davon ab, weiterzusuchen. Eine immer größer werdende Zahl findet unsere Podcasts und hört immer wieder rein. So lange also unter einer kirchenmüden Generation diese geistliche Neugier besteht – und zwar aller Skepsis zum Trotze -, ist unser Auftrag hier noch nicht erfüllt.

Es versteht sich von selbst, dass man sich bei dieser Spezies besser nicht wie ein Elefant in der Sakristei aufführen sollte. Erst recht nicht bei einem Podcast, wo wir es oft mit heimlichen Hörern zu tun haben, von denen wir nichts wissen, außer, dass sie uns nur anonym und unerkannt ihr Ohr leihen – und uns damit dennoch ihr Herz einen kleinen Spalt öffnen. Jede Episode könnte potentiell die letzte sein, die die Herzenstür endgültig zuknallt. Oder aber ein weiterer, kleiner Türöffner und ein nächster Schritt auf einer neuen, geistlichen Entdeckungseise.


Der klassische Evangelist – ein „testosterongetriebener Missionsmacho“


Deshalb dürfen wir bei so einem zentralen Thema wie „die Wahrheit“ nicht einfach nur Bibelverse dreschen, obwohl es gerade bei dieser Materie genug für einen ganzen Bibelmähdrescher gäbe. Mich erstaunt aber immer wieder, wie viele unserer Freunde, die wir mittlerweile persönlich kennen, in früheren Jahren schon direkten Kontakt mit eifrigen Evangelisten hatten, oft sogar mehrfach, und mich erstaunt noch mehr, welche Worte man heute wählt, um eben solche Evangelisten uns gegenüber zu beschreiben. Bevor ich hier ein Beispiel nenne, muss ich aber betonen, dass in diesen Beschreibungen nie eine ablehnende oder gar bösartige Haltung mitschwang. Eher ein amüsiertes Kopfschütteln. Was würdet ihr also davon halten, wenn euch ein Evangelist schmunzelnd als „testosterongetriebener Missionsmacho, dem es in gespielter Demut hauptsächlich um den eigenen Erfolg geht“ definiert wird? Ich jedenfalls musste laut lachen.

Nicht zum Lachen sind hingegen die Evangelisten der Gegenwart, die tatsächlich immer noch voll in diese Kategorie fallen. Dazu gehören unter anderem nicht wenige US-Fernsehprediger, die ihre „Wahrheiten“ vor allem unter einem großen Publikum von rechtskonservativen Christen verteilen: Covid sei eine Strafe Gottes wegen Homosexualität, Leugnung des Klimawandels, Verschwörungsgeschichten, Vergleiche von Impfkampagnen mit den Nazis. Mit derartigen „Erkenntnissen“ beflecken sie nicht nur das Evangelium, das Evangelisten schließlich im Titel tragen, sondern auch den Ruf unseres Herrn und Kyrios Jesus, der sich eigentlich ausnahmslos für die Gesundheit des Menschen einsetzt. Obendrein dämpfen sie die Glaubwürdigkeit der weltweiten Gemeinde gewaltig, weil hier Wahrheit und Unwahrheiten unverantwortlich durcheinandergerührt werden. Besonders unangenehm wird es für alle, wenn sich solch prominente TV-Evangelisten mit ziemlich queren Argumenten vehement gegen Impfungen aussprechen und dann selbst an Covid-19 sterben – und der Wert ihrer „Prophetien“ damit ja irgendwie hinfällig wird. Zu ihnen gehörten Phil Valentine, Dick Farrel, der den amerikanischen Immunologen Anthony Fauci öffentlich als „machtgeile, lügende Missgeburt“ betitelte, „Daily Prophesy“-Jimmy DeYoung, Bob Enyart, der Covidimpfungen fälschlich als tote Embryozellen verteufelte, oder „Mr. Anti-vax“ Max Bernier. Alle diese „evangelisierenden“ Impfgegner starben 2021 an Covid-19 – einer nach dem anderen. Selbst wenn Phil Valentine es auf dem Sterbebett angeblich bereut haben soll, Impfgegner gewesen zu sein – solche krude Geschichten, nicht selten kombiniert mit Medienmacht, Sexskandalen oder totalem Luxus wie Privatjets stellen alle Christen weltweit in ein zweifelhaftes Licht, lassen uns alle eher wie eine lächerliche Puppenkiste erscheinen und nicht als kompetente Hoffnungsträger in einer gebeutelten Welt auftreten. Diese Welt kriegt nämlich mehr von uns Frommen mit, als wir Christen manchmal denken, glaubt es mir. Wer weiß also schon, inwieweit diese Sachen einmal das westliche kollektive Gedächtnis in Zukunft bestimmen werden, wenn es um Kirchengeschichte geht.

Erst diese Woche erst verstarb auch der bekannte TV-Prediger und ausgesprochene Impfgegner Marcus Lamb an Covid-19.

Am anderen Ende unserer Podcasts sind also viele kirchenskeptische Menschen, die eines Tages vielleicht noch unsere Freunde werden, weil sie eben auch ein echtes Interesse an Gott, Glaube oder Theologie pflegen. Gerade weil ihr Interesse genuin ist, wollen sie sich nicht von falschen Propheten über den Tisch ziehen lassen. Viele wagen es entsprechend noch nicht oder nicht mehr, mit einem Christ, Pastor oder Pfarrer persönlich zu reden, man klopft den Busch lieber erstmal gründlich mit langen Stöcken aus der Ferne ab, ob sich nicht doch noch ein paar Schlangen darin verstecken. Unsere Podcasts dienen dem Zweck, auf lange Sicht Vertrauen aufzubauen. Die Zuhörer müssen das Gefühl gewinnen, dass wir erstens wissen, worüber wir reden, dass wir zweitens wissen, was wir nicht wissen und das auch problemlos zugeben können, dass wir drittens größer denken können als nur innerhalb christlicher Gedankenblasen und dass wir viertens auch ungewöhnliche Menschen und Meinungen hantieren und stehen lassen können – und sich trotzdem jeder gehört, verstanden und angenommen fühlt, auch wenn man nicht immer einer Meinung sein mag.


Mit unseren Podcasts wollen wir zum Gespräch anregen und das Gefühl des Monologs vermeiden.


Aus diesem Grund sind unsere Podcastgäste so vielfältig wie unser Kontaktnetzwerk. Pastorinnen und Pastoren, Studentinnen und Studenten, Feministinnen und Feministen, Musikerinnen und Musiker, Philosophinnen und Philosophen, Homosexuelle, einen Arzt hatten wir ein paarmal dabei, Künstlerinnen und Künstler oder, wie bei der Aufnahme jetzt gleich, ein Autor und Theologieprofessor, sie alle finden sich auf unserer immer länger werdenden Gästeliste. Es wird immer ein Gespräch aus drei bis vier Teilnehmern, um das Gefühl des Monologs zu vermeiden und zum aktiven Mitdenken anzuregen – so ähnlich, als säße man am selben Tisch und könnte mitreden.

Und weil es heute eben um das zentrale Thema „Wahrheit“ geht, musste ich mich schon ein bisschen vorbereiten. Was hat der Professor in öffentlichen Vorträgen schon dazu gesagt? Was schreibt er dazu in seinen Büchern? Was sagt eigentlich die Philosophie zum Thema Wahrheit? Und nicht zuletzt: Wie würde ich selber „Wahrheit“ definieren – und zwar so, dass es nicht nur Bibelfeste und Theologieprofessoren kapieren?

Die Uhr rennt schnell voran, bald schon wird die Gesprächsrunde auf meinem Schirm erscheinen und nach einem kurzen Aufwärmplaudern werde ich den Aufnahmeknopf drücken. Wish us luck und sprecht ein Gebet für uns und unsere Podcasts samt allen Hörern!

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