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Hilfeschrei zu Weihnachten

Man könnte meinen, zu Weihnachten gäbe es keinen Platz für Resignation und Traurigkeit. Als müssten wir uns mit Weihnachtsstimmung behängen wie ein Einkaufszentrum im Advent. Ist das eine Kultur, die Freikirchen auch den Rest des Jahres pflegen – immer Friede, Freude, Heiterkeit? Sollte das so sein, werden wir die jungen Generationen verlieren. Ein Vorschlag, wie Gemeinden gerade heute wieder zu Inseln echter Hoffnung werden.

Neulich tauchte ein Sozialarbeiter in unserem Sonntagstreffen auf. Er hatte sich durch fast alle Podcasts gehört, nun wollte er uns persönlich treffen. Insbesondere hatten ihn die beiden Abschnitte zum Thema Hoffnung angesprochen, denn er kämpfe gerade sehr mit der „totalen Hoffnungslosigkeit“ der jungen Generationen in seinem beruflichen Umfeld.

Totale Hoffnungslosigkeit – das ist ein Begriff, der mir in unterschiedlichen Formulierungen immer wieder begegnet. Gerade Sozialarbeiter, Lehrerinnen, Jugendarbeiter oder Jugendpastorinnen – also gerade die Berufsgruppen, die jungen Menschen am nächsten stehen – sprechen immer wieder verzweifelt über das um sich greifende psychische Elend der jungen Generationen.

Viele werden dann selbst von diesem Kummer ergriffen und geradezu angesteckt. Man weiß dann gar nicht, wohin damit, und traut sich kaum, darüber zu sprechen. Oft kommt es nur hinter vorgehaltener Hand raus, oder erst nach sehr, sehr langem Smalltalk, oder in offiziellen Seelsorgegesprächen, oder eben in unseren Sonntagstreffen, wo wir genau wie in den Podcasts eine Atmosphäre der Offenheit kultivieren.

Dadurch habe ich mittlerweile zwei Dinge gelernt. Erstens, das Problem der Hoffnungslosigkeit ist sehr viel größer, als man meint. Es schwelt wie ein unterirdischer Wurzelbrand auf weiten Flächen, die oberflächlich normal und schön auszusehen scheinen. Zweitens gibt es Menschengruppen, denen es schwerfällt, diese Entwicklung als große Gefahr anzuerkennen. Dazu gehört u.a. meine eigene Generation, insbesondere solche, deren Kinder schon länger erwachsen sind. Leider gehören aber auch zu viele Christen dazu, deren Gemeinden etwas zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind.

Man könnte es vereinfacht als den großen Generationenkonflikt unserer Zeit betrachten. Nur, dass junge Leute früher provozierend aufbegehrten und die Alten sich dann darüber aufregten. Heute ist die provokative „Letzte Generation“ da eher eine Ausnahme, denn statt Punk und Skandal versinken die meisten jungen Leute nun im tiefen Sumpf des Pessimismus. Und die Alten regen sich auch gar nicht mehr auf (außer über die Letzte Generation natürlich), sie schütteln nur den Kopf, machen sich lustig über unfähige Blagen, die noch nix g’scheit’s gelernt haben und drücken sie noch ein wenig tiefer in den Matsch. Denn früher gab es einem alten Naturgesetz folgend immer viel mehr junge Leute als alte, heute ist die Demographie aber zum ersten Mal in der Geschichte umgedreht. Die Alten brauchen sich gar nicht aufzuregen. Die Sorgen der Jugendlichen werden ohnehin von Rentnerarmeen plattgetrampelt.

Wenn wir nicht sehr gut aufpassen und uns weigern, diese Entwicklungen zu Herzen zu nehmen, züchten wir uns selbst brandgefährliche Gesellschaften heran. Es wäre klug, aus dem Lexikon der Fehler zu lernen, die z.B. der ganze Westen mit der Kolonialisierung gemacht hat: Nehmt die Schwachen lieber ernst! Bevormundet sie nicht! Glaubt nicht, ihr könntet befehlen, nur weil ihr glaubt, höher entwickelt zu sein und Dinge besser zu wissen. Denn die Schwachen werden stärker werden und ihr schwächer, und dann wird sich alles heimzahlen. Deshalb ist es klug, sich mit dem Gegner zu einigen, während wir noch mit ihm auf dem Wege sind, wie Jesus schon ermahnte.

Gemeinden wird hier eine besonders große Verantwortung zuteil: Wir müssen Vorbilder im Kleinen werden für das, was die uns umgebende Gesellschaft im Großen sein sollte. Wir müssen hinkriegen, woran Politik und Gesellschaft gerade scheitern, weil uns genau die dazu richtigen und nötigen Werkzeuge gegeben wurden. Wenn es uns nicht gelingt, wird es keinem gelingen.

Es reicht nicht, nur eine „gute“ Jugendarbeit zu haben. Es reicht nicht, einen Jugendpastor anzustellen oder sogar zwei. Es muss regelmäßigen Dialog zwischen den Jüngeren und den Älteren geben. Die Älteren müssen nicht nur hören, sie müssen verstehen, wie es den Jüngeren wirklich geht. Die Jüngeren müssen regelmäßig erleben und damit spüren, dass sie wirklich gehört und ernstgenommen werden. Das wäre ein erster, konkret Schritt zur Hoffnung. Wir Älteren müssen auch immer wieder selbst erleben, dass unsere manchmal etwas plakativ simplen Antworten oder Erklärungen einfach nicht greifen. Wie die oben erwähnten, durchaus gut ausgebildeten und erfahrenen Sozialarbeiter müssen auch wir vom Geschmack der Hoffnungslosigkeit kosten, denn wem dieser Pessimismus fremd ist, der wird nie in der Lage sein, wirklich Hoffnung geben zu können, der wird immer nur Propaganda predigen.

Was eine theologische Herausforderung enthüllt: „Hosianna!“ muss wieder vom Jubelruf zum Hilfeschrei werden, was es ja eigentlich auch ist, wie ich schon zum Ersten Advent schrieb. Überspitzt ausgedrückt leben aber viele Gemeinden zwischen den Zeilen eine Überzeugung, in der man als Mitglied immer nur lobpreist, oder als Gläubige(r) Hoffnung zu haben hat, und zwar sobald man bekehrt ist. Hat man sie aber nicht, oder irgendwann nicht mehr, hat man mehr Grund zur Klage, muss was mit dem Glauben falsch sein. Resignation, Aussichtslosigkeit oder Depression können nicht wenige gläubige Christen nur schwer akzeptieren, sie dürfen ja nicht sein, müssen bekämpft oder geheilt werden. Schnell werden die Versuche, sich der erlebten Aussichtslosigkeit zu entledigen, zur erwähnten frommen Propaganda. Zum (platten) Beispiel: „du musst halt nur beten und die Bibel lesen, dann wird alles wieder gut“. Wird es eben nicht immer, man lese nur mal Psalm 35. Deshalb müssen wir lernen, die uns umgebende Hoffnungslosigkeit als das neue Normal zu akzeptieren. Wir müssen die plakative, maskenhafte Hoffnung abstreifen, mit der wir uns manchmal schmücken wie ein Einkaufszentrum im Advent. Stattdessen wird nötig sein, lebendige Hoffnung wieder neu zu erlernen, echte Hoffnung, weil sie in echtem Kummer wurzelt. Wird uns das nicht gelingen, werden wir die jungen Generationen völlig verlieren, weil sie sich bei uns einfach nicht mehr ernst genommen fühlen.

Das ist ein Prozess des Umdenkens, des Neudenkens. Ein Prozess der theologischen Reflektion. Dieser Prozess ist nicht immer einfach und auch nicht immer spannungsfrei. Deshalb spielen zwei Gruppen eine Schlüsselrolle: Die Gemeindeleitung und die junge Generation. Gemeindeleitungen müssen beginnen, sich regelmäßig mit der Jugend zu treffen. Gemeindeleitungen müssen ihnen zuhören, sich Probleme, aber auch Vorschläge geben lassen. Wie das walisische Parlament braucht jede Gemeinde außerdem eine Kommission der zukünftigen Generationen. Oder eine eigens eingesetzte Arbeitsgruppe für den Blick in die Zukunft, wie sie die finnische Regierung hat. (Kanada und Singapur haben übrigens ähnliche Zukunfts-Kommissionen, die den jeweiligen Regierungen helfen, kluge Entscheidungen zu treffen oder Leitlinien zu geben.) Nie waren solche Gruppen so wichtig, wie heute. Gerade in Gemeinden, wo demographische Entwicklungen zu deren größten Gegnern gehören. Wollen wir auch morgen noch ein lebendiges Zeugnis bleiben, müssen wir heute schon der Generation von morgen unser Gehör geben. Doch selbst das reicht nicht: Sie müssen auch eine Stimme bekommen, sie müssen ernst genommen werden. Es muss ein echter Dialog mit echten Konsequenzen entstehen. Ein hypothetisches Beispiel:

Sollte deine Gemeindekommission der künftigen Generationen den Vorschlag erarbeiten, auf Gemeindeveranstaltungen fortan nur noch vegetarisches Essen zu servieren, dann weiß einerseits jeder, dass das zu Spannungen führen wird. Andererseits darf der Vorschlag gerade deshalb nicht unter den Teppich gefegt werden, weil genau das wieder bestätigt, wie junge Menschen sich ohnehin fühlen: uns nimmt sowieso keiner ernst, keiner tut was, ist eh alles egal, ergo: Hoffnungslosigkeit. Hier wäre die Lösung, dass Gemeindeleitung und Kommission einen Plan erarbeiten, der nicht nur die Spannungen in Grenzen hält, sondern das Ganze vielleicht sogar zu einem spannenden Erlebnis für alle macht. Man könnte sagen, dass man in den nächsten 24 Monaten lernen wolle, die Mahlzeiten zu gemeinsamen Veranstaltungen fleischlos zuzubereiten. Erst gibt es nur ein paar interessante vegetarische Alternativen, dann immer mehr. Man könnte Kochkurse anbieten oder ein eigenes Gemeindekochbuch mit Andachten über die Tischgemeinschaft in der Bibel kreieren.

Je mehr solcher Beispiele wir praktisch lösen, desto mehr Fliegen schlagen wir mit jeder Klappe:

Junge Menschen fühlen sich involviert und ernstgenommen. Ältere können mit ihren Erfahrungen beitragen. Wir lernen, einander zuzuhören und zu verstehen, sich gegenseitig zu respektieren.

Wir lernen, uns selbst infrage zu stellen, demontieren unseren Stolz.

Die Gemeinde lernt, Konflikte konstruktiv zu lösen. Man fordert die ganze Gemeinde zum Umdenken und damit zur theologischen Reflektion heraus.

Wir schaffen gewisse Veränderungen selbst und sehen uns nicht ständig als Opfer des Wandels. Wir lernen, für Veränderung zu sein und nicht dagegen, öffnen unseren Blick für neue Möglichkeiten, die wir dann selbst gestalten.

Wir werden das Wort „Hoffnung“ plötzlich ganz neu erleben, viel konkreter und schillernder und nicht nur das: Selbst Gott wird uns überraschend neu vorkommen.

Über die Zeit schaffen wir damit genau die Kultur, die unsere Zeit am dringendsten braucht: Liebevolle Hoffnungsträger, die trotz Aussichtslosigkeit gemeinsam Schönes schafft, weil wir noch etwas viel Größeres erwarten. Damit werden wir eine konstruktive Gegenkultur, eine motivierende Insel im Meer der Hoffnungslosigkeit.

Wenn jede Gemeinde eine solche Insel wäre, dann…

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