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Sehnsucht, verzweifeln, SOS: Advent.

Advent, Advent, ein Landstrich brennt.

(Kunstwerk: „Trojas Brand“ von Claes Jansz van der Willingen, finnische Nationalgalerie)

Die schwedischen Gottesdienste des Ersten Advent sind festlich, gewaltig, pompös. Das Gegenstück zum deutschen Heilig-Abend-Gottesdienst sozusagen: Hier kommt jeder, der noch was damit anfangen kann, sonst aber nie zur Kirche geht. (Heiligabend-Gottesdienste sind hier eher mickrig bis gar nicht existent.) Am ersten Advent, so hörte ich immer wieder, holt man sich in der Kirche die Weihnachtsstimmung ab. Tradition, Kerzenlicht, die alten Lieder. Das große Thema der Textlesungen und Predigten stehen am Ersten Advent ebenfalls in ganz Schweden fest: Jesu Einzug in Jerusalem. Hosianna! So ist man groß geworden, so ist es schön.

Gestern war ich selbst in einem Gottesdienst der svenska kyrka. Ein guter Bekannter war dort als Musiker beteiligt und ich wollte ihm die Ehre erteilen. Es war ein schöner Gottesdienst. Es war sogar wunderschön. Nur die Weihnachtsstimmung, die wollte sich nicht einstellen. Seit Wochen ist es einkalt, alles ist weiß verschneit. Gute Voraussetzungen. Nachmittags hatte ich ein paar Stunden frei. Ich habe Kerzen angezündet und genüsslich die ersten Weihnachtsplätzen verspeist. Aber Weihnachtsstimmung? Fehlanzeige.

Was soll’s. Im Moment bin ich ohnehin in einer Lebensphase, in der viel in Frage gestellt wird. Vieles, was ich immer als normal, fortschrittlich, zivilisiert ansah, stellt sich gerade als – nun, sagen wir mal: nicht so klug und zivilisiert heraus, wie ich dachte. Unser westlicher Lebensstil ist natürlich nicht grundsätzlich falsch, aber er ist eindeutig auch arrogant und gierig. Seit einigen Jahren fällt mir immer mehr auf, wie sehr ich selbst zu dieser Arroganz und Gier beigetragen habe. Ganz ordentlich sogar. Dieser Prozess der Läuterung ist nicht ganz einfach, weshalb sich viele Gleichaltrige die Selbstbesinnung vermutlich lieber meilenweit vom Leib halten. Ja, es tut einfach weh in der Seele, das kann kein Marzipan versüßen. Meine adventliche Vorfreude ist deshalb gerade eher rational als emotional.

Oder vielleicht auch nicht? Schließlich habe ich ja noch Gefühle, nur sind die eben nicht adventlicher Art. Sie sind eher sehnsuchtsvoll. Ich sehne mich gerade ernsthaft danach, die Menschheit würde ihrem Hauptzweck etwas besser nachkommen: Die Weisheit, Güte, Liebe und Kreativität ihres Vorbildes, des Schöpfers widerzuspiegeln. Wir scheinen nie weiter davon weggewesen zu sein als nun, denn die Gier, die wir wie ein trojanisches Pferd ins Herz gelassen haben, brennt gerade unser Heim nieder. Statt zu löschen und Schadensbegrenzung zu betreiben, lamentieren wir lieber über lächerliche oder gewalttätige Nebenschauplätze. Und das oft auch noch ziemlich arrogant. So mischt sich Frust in meine Sehnsucht. Denn wenn das so weitergeht, sieht’s zappenduster aus. Das kriegt keine Kerze hell. Wo bleibt die Hilfe? Die Dummheit des Menschen ist zum Verzweifeln.

Vielleicht bin ich damit aber gegen meinen Willen näher an jeder Adventsstimmung als ich je zuvor war. Weil das verzweifelte Warten auf Rettung keine brennende Kerze, sondern eine brennende Sehnsucht ist, so heiß, dass man sich innerlich daran verbrennt. Hat Israel beim verzweifelten Warten auf den Messias unter der römischen Besatzung nicht ähnliche Gedanken haben müssen wie ich heute beim Blick auf viele europäische Politiker: „Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!“ ?!

Vielleicht ist die schwedische Adventstradition vom Einzug in Jerusalem gar nicht so falsch. Denn „Hosianna!“ ist kein Jubelruf wie mir lange beigebracht wurde. Hosianna ist das hebräische SOS – Safe Our Souls, ein verzweifelter Notruf, eine Leuchtpistole, das Morseklopfen der Verschütteten. Nix Tanz und Jauchzen. Sondern: „Herr, hilf doch!“ Wir gehen sonst ein! Gier und Arroganz nehmen uns den letzten Sauerstoff! Wir, die wir uns nach Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Güte und Frieden sehnen, pfeifen aus dem letzten Loch! Herr, hilf! Oder, wie es in den Psalmen mehrfach heißt: „Herr, eile uns zur Hilfe!“ Denn wenn nicht gerade ein verlorener Sohn oder eine verlorene Tochter heimkommt, scheint der Herr sich immer nur im Schneckentempo zu bewegen. Auf Eseln halt.

Deshalb wird es Zeit für sein zweites Kommen. Da soll er ja auf einem Pferd sitzen, das ist sicher schneller. Darauf warte ich. Aber ungeduldig. Hosianna, mein Gott!

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