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Sahneglaube oder Kampf?

Über den Kampf des Glaubens, die Höhenflüge westlicher Christen und mehr.



Mein erster Besuch in einer echten Megachurch war schon ein Erlebnis.

Da war dieser riesige Parkplatz, der sich füllte wie eine Salzwiese bei einkommender Flut. Da waren jede Menge Menschen, die sich durch die Zwischenräume der parkenden Blechlawine zwängten. Alle strömten in dieses riesige Einkaufszentrum, das gar keins sein sollte, obwohl es genauso aussah. Im Wahrheit wollten Parkplatz und Zentrum nämlich eine Gemeinde sein, eine ganz moderne sogar, eine Megachurch. Jede Menge Türen und Eingänge, wie in einem Einkaufszentrum. Innen ein langer, breiter, menschengefüllter Gang, wie in einem Einkaufszentrum. Auf der einen Seite Cafés, Bookstores, Infostände, wie in einem Einkaufszentrum. Auf der anderen Seite viele offene Eingänge zu einer Art Opernsaal, aus dem laute Livemusik tönte. Nicht wie in einem Einkaufszentrum. Die meisten Leute gaben allerdings erstmal ein paar Dollars aus, genau wie in einem Einkaufszentrum, und deckten sich in den Cafés mit fetten Eisbechern mit Sahne oder riesigen Coffee-Bechern ein. Fast so, wie man sich im Kino erstmal mit Popcorn und Cola bewaffnet. Mit Plastiksahneeisbechern oder Lattes und süßen Sirups beladen spazierte man im Saal zu den noch freien Plätzen. Man unterhielt sich angeregt und schenkte der großen Lobpreisband samt Lichtorgel wenig Beachtung. Bis die Musik aufhörte, die Türen geschlossen wurden und der Prediger angekündigt wurde, Der war wie die Band laut, agil, dynamisch. Ein pfiffiger Rhetoriker.

An die Predigt erinnere ich mich ehrlich gesagt nicht. Weder ans Thema noch an irgendeine Formulierung. An die vielen Sahnehauben aber und das Schlürfen aus Plastikbechern um mich herum, daran erinnere ich mich genau, auch an den vielen Müll, der später unter den Stühlen lag. Und daran, dass die Ankündigung der Kollekte samt Aufforderung, da doch bitte ordentlich was reinzulegen, gefühlt fast halb so lang war wie die ganze Predigt. Weil mein Gastgeber ein Kumpel des Megapastors war, bekamen wir ein paar Minuten Privataudienz gleich neben der Bühne. Vermutlich stand ich die ganze Zeit mit versteinertem Grinsen herum. Ich weiß es nicht mehr, außer, dass ich mich beklemmt fühlte.

In den folgenden Jahren habe ich noch andere, ähnlich aufgelegte Gemeinden in verschiedenen Ländern erlebt. Heute denke ich immer öfter an meine Erlebnisse in Konsumgemeinden. An die Schlagsahne und andere Symbole des Luxus. Erinnere mich aber auch an meine eigene Faszination, als in den 1990-ern der Hype um Hybels in Deutschland begann: „Der, Bill, der kann’s, Mann! Der hat’s raus! Bill Hybels weiß, was Evangelium ist und wie man’s heute predigt, so was von cool!“ Ich wurde zwar nie ein echter Hybelsjünger, und die oben erlebte Megachurch war eine viel unbekanntere als Willow-Creek, dennoch faszinierten mich Hybels & Co. Jedenfalls, solange ich es aus sicherem Abstand, von Deutschland aus beobachtete und noch nicht persönlich in den heiligen Plastikmüll einer Konsumgemeinde getauft worden war. Hybels Willow-Creek-Bewegung sah für mich so aus, als würde hier eine Alternative zur wachsenden Säkularisierung entstehen. Schließlich ist es nicht falsch, Optionen und Ergänzungen zu bestehenden Gemeindeformen zu finden. Es ist richtig und wichtig, zu kontextualisieren, wachsam für Veränderung zu bleiben, von daher war das alles gut.

Rückblickend frage ich mich allerdings, ob jene zeitgemäßen Alternativen nicht besser in eine andere Richtung hätten weisen müssen. Denn gute Kontextualisierung der Bibel muss immer ein Gegengewicht zur bestehenden Kultur bilden. Wenn das Gewicht beim Auswuchten des Reifens auf der falschen Seite landet, kann das sehr unangenehm werden und im schlimmsten Fall zum Unfall führen. Kirchengeschichtlich wurde das moderne Unglück zur Megachurch. Heute frage ich mich nämlich, ob Megachurch, Hillsong, ICF & Co. gar keine gesellschaftlichen Gegengewichte sind, sondern nur fromme Karikaturen des westlichen Liberalismus. Denn dort findet sich exakt derselbe Konsum, der gleiche Individualismus, dasselbe Entertainment. Nur halt mit Fischaufkleber drauf.

Was aber bleibt übrig vom Glauben, wenn er nicht mehr als eine Sahnehaube auf dem ohnehin fett-buntem Eisbecher des Lebens wird? Wenn Glaube nur dazu dient, die unbegrenzten Möglichkeiten des Westens jetzt auch auf Übernatürliches erweitern zu können, wie Gebetserhörungen, Wunder oder Heilungen? Was bleibt, wenn eine Megachurch wochenlang Stromausfall hat? Was, wenn wirklich Krieg ausbricht, wenn das Eis schmilzt – sei’s im Becher oder an den Polen -, die Soundanlagen verstummen, die Bühnenbeleuchtung erlischt und wir plötzlich einsam in der düstren Schlucht der Existenz irren? Was, wenn dann auch noch der Mut, den wir zu haben dachten, vor der Angst flieht, wenn plötzlich vielleicht nicht mehr jedes Gebet erhört wird, wenn Zweifel wie tausend Raben durch die Gedanken schwirren, wenn Verzweiflung ihr Gift verströmt?

Anhänger des Wohlstandsevangeliums gehen gerne von Gerechtigkeit im Leid aus, sehen in großen Lebenskrisen gerne das eigene Verschulden, das Gottes Strafe, zumindest aber seinen Segensentzug verursacht haben muss. Und zwar auch, wenn die Betroffenen selbst wie Hiob nicht die geringste Ahnung haben, worin genau die eigenen Vergehen denn nun bestanden haben mögen, das solche Peinigungen auf sich zieht.

Andere wiederum erheben sich zum Schiedsrichter, wenn das Spiel des Lebens plötzlich nicht mehr auf fettem Rasen sondern trockenem Wüstensand fortsetzt, und ziehen die rote Karte der Theodizee: Wenn der angeblich so liebe Gott uns kein perfektes Leben ermöglichen kann oder will, ist er es auch nicht wert, geglaubt zu werden. Gemäß dieser Logik hat der Glaube ausgekämpft, bevor der Kampf überhaupt begonnen hat.

Ich überlege, wieviel Argumentation dieser Art überhaupt etwas mit Glauben an Gott zu tun hat. Der Glaube, der hier wirklich im Zentrum steht und das Denken steuert, gilt gar nicht Gott: Es ist eher der Glaube an’s Ich und das perfekte Leben. Gott wird nur Mittel zum Zweck. Oder eben der Schuldige, den man anklagen kann, wenn es nicht klappt mit dem perfekten Leben. Sonst aber wiegt man sich gern im Schoß der Selbstgefälligkeit. Religion, Gott oder Gottesdienst scheinen nur ein paar weitere Zutaten auf dem Bankett des Überflusses zu sein.

Doch das Leben kann jederzeit stürmisch werden. Die Hand der Willkür greift oft genug in die Lebensfäden x-beliebiger Menschen und verwebt sie zur Ungleichheit. Wenn Gerechtigkeit wirklich eine Waage ist, dann scheint es eine zerbrochene zu sein, auf der das Leid schwerer wiegt als die Hoffnung. Meiner Meinung nach ist es nicht der Glaube an Gott, der Kampf einfordert, der ein Kampf ist. Es ist das ganz normale Leben, dass uns herausfordert und uns den Kampf des Überlebens abverlangt. In früheren Jahrtausenden war das wohl noch eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Man wusste nie, wann es einen trifft. Aber auch wir im verwöhnten Westen werden immer wieder daran erinnert. Manchen gelingt es, sich unverletzt durchzuschlagen, andere müssen sich geschlagen geben.

So manche nichtwestliche Kultur schüttelt zuweilen den Kopf über uns verzogenen Westler, weil wir uns in unserem Luxus für überlegen halten – und dabei gleichzeitig verfetten und kampfuntüchtig werden. Die marokkanische Freiheitskämpferin und Feministin Fatima Mernissi kritisiert z.B. in ihrem Buch „Islam und Demokratie“ den westlichen Individualismus aufs Schärfste und nennt ihn sogar die Wurzel allen Übels, weil das westliche Ich dadurch unfähig geworden sei, sich dem Wir unterzuordnen – doch wer sich noch nicht einmal dem Kollektiv unterordnen könne, wie kann es dann gelingen, sich Gott unterzuordnen? Das mag sicher eine muslimische Denkweise sein, und doch bleibt ihre Frage eine legitime Herausforderung an den angeblich christlichen Westen.

Der guatemalische Theologe Miguel Álvarez kritisiert die westliche Kirche auf’s Schärfste, weil sie in ihrem Überfluss ernsthaft glaube, man müsse etwas für die Armen tun und dabei völlig vergesse, dass in Wahrheit die Armen die Kirche seien. Es sei nicht der reiche Westen, der unter den armen Armen zu missionieren habe, es seien vielmehr die Armen selbst, die anderen Armen den Weg zum lebendigen Wasser zeigen können. Sie haben auch ohne Ressourcen gute Nachricht zu geben, die andere Arme aktiviert und Hoffnung gibt. Das aber sei ein Evangelium, für das der Westen blind, taub und stumm sei.

Nun will ich persönlich glauben, dass es auch für uns verwöhnte Christen des Westens irgendwo einen Platz in irgendeinem Nebenraum des Himmels geben wird, doch gleichzeitig fürchte ich, dass wir, um dorthin zu kommen, viele, viele Extraportionen Gnade in Anspruch nehmen müssen, weil wir in unserem Wohlstand den Kern des Evangeliums einfach nicht verstehen können und uns seit Jahrhunderten auch entsprechend verhalten. Nicht wir sind es, die für den Glauben kämpfen müssen – es ist der Glaube, der für uns kämpft. Das merkt man aber erst, wenn man ernsthaft und dauerhaft den eigenen Schwächen und Grenzen, den Schatten des Unglücks, dem Stickstoff der Ungleichheit, den Dämonen der Dunkelheit oder einfach einem wochenlangen Stromausfall in der Megachurch ausgesetzt ist.

Selig sind, die da leiden müssen, die sich nach Gerechtigkeit sehnen und dennoch barmherzig und friedfertig bleiben, denn Gott kämpft für euch, Gott steht an eurer Seite, auch, wenn ihr euch einsam fühlt und verlassen, wenn ihr so lange auf Gerechtigkeit warten müsst. Liebt weiter, ihr verletzten Seelen, ihr Seligen! Lasst uns alle weiter lieben, selbst dann, wenn unsere Liebe sogar den sehr viel Stärkeren gelten sollte, den Mächtigen, die vielleicht sogar gegen uns sind und uns womöglich lebendig an die Wand nageln, selbst, wenn wir betend und verblutend nur noch „Warum hast du mich verlassen?“ jammern können.

Dann und vielleicht gerade dann kämpft Gott den guten Kampf des Glaubens.

Psalm 130, 1-7

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