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„Nicht wachsende Gemeinden sind doch gar keine Gemeinden!“

Der junge Mann war empört. Ich hatte einen einführenden Vortrag über die missionale Gemeinde gehalten. Das geht immer am einfachsten, wenn man die Kirchengeschichte Europas auszoomt und als Ganzes betrachtet, von der Urgemeinde bis heute. Man erkennt gut, wo wir sind und warum. Anhand der Ballistik einiger Trends kann man sogar voraussagen, wo wir in ein paar Jahren landen werden – inklusive Möglichkeiten und Schwierigkeiten.

Der junge Mann meinte, dass das Missionale doch nur zur Verwässerung der Gemeinde führt. Dies sei eindeutig zu sehen. So weit, so gut. Diesen Einwand kann ich voll und ganz gelten lassen, denn wo Gemeinden nur darauf aus sind, cooler, hipper oder trendier zu werden, da mag man zwar wachsende Gemeinden vorfinden, aber auch einen wachsenden Showfaktor, und damit die Gefahr zur Oberflächlichkeit. Ich selber stehe den stylischen Hochglanzgemeinden eher skeptisch gegenüber, selbst wenn längst nicht alles schlecht klingt, was ich von diesen Gemeinden mitkriege. Doch Hauptzweck jeder Gemeinde ist NICHT ein „geiler“ Gottesdienst – es ist das Leben in der Nachfolge mit Liebe und Geduld. Und zwar zu allen 168 Stunden der Woche. DARAUF kommt es an, DAZU soll die Gemeinschaft der Jünger anspornen. Wie dieser Ansporn aussieht, ist völlig nebensächlich. Manchem hilft die Kirchenorgel, andere brauchen Zweierschaften. Wichtig ist: Echte Nachfolge im 21. Jahrhundert sieht anders aus als im 16. Jahrhundert.

„Verwässerung“ bedeutet also nicht, sich aktuellen Themen anzunehmen – vielleicht sogar auf Kosten klassischer, theologischer Themen. Warum so viele Leute heute an Burn-out leiden, steht z.B. nicht in Luthers Katechismus, denn damals brannten eher Kirchen aus. Die Bedeutung konsequenter Ruhe- und Auszeiten ist heute ungleich wichtiger als in Zeiten, wo es statt iPads Fackeln und Pferdegetrappel statt Lärmverschmutzung gab. „Verwässerung 21“ heißt KEINE postmodernen Themen biblisch reflektieren. Wirklich missionale Gemeinden* müssen eigentich noch viel, viel mehr die Bibel lesen und erforschen als klassische Gemeinden, die eh schon alles in fertigen Kommentaren finden.

Ich weiß nicht, ob der junge Mann mein Argument verstanden hat. Denn sein Gegenargument war, er habe von einer solchen modernen Gemeinde in Deutschland gehört, die – man stelle sich vor! – zu bestimmten Anlässen nicht nur Wein ausschenke, sondern dazu noch den besten Wein, den es gäbe. Damit sei ja wohl bewiesen, dass man heutzutage so ziemlich alles verleugne, was historisch eine gute Gemeinde ausmache.

Ich muss einen Augenblick zu lange darüber nachgedacht haben, ob die Anwesenheit von Jesus oder die Abwesenheit von Wein entscheidender für eine Gemeinde ist und in wieweit Jesus und Wein überhaupt zusammengehören. Denn bevor ich antworten konnte, stellte er mir die entscheidende Frage: Was ist überhaupt eine Gemeinde? Eine sehr weise Frage. Leider beantwortete er sie selbst. Eine nicht wachsende Gemeinde ist schließlich keine Gemeinde mehr, zumindest darin würde ich ihm doch wohl zustimmen, oder?!

Ich war etwas baff und sagte nur, dass ich nicht wagen würde, all den kleinen Hausgemeinden in muslischen Ländern, die über Jahrzehnte treu und oft unter Lebensgefahr angebetet haben, das Gemeindesein abzusprechen, nur weil es kein Wachstum gab.

Nun, der Mann wird noch lernen in seinem Leben. Schön, dass ich Teil der Reise sein konnte. Und er ist noch jung. Leider treffe ich auch viele Ältere (Älteste?) mit ähnlichen Überzeugungen. Es zeigt immer wieder, wie leicht wir „Tradition“ mit „biblisch“ verwechseln. Von daher sind unsere heutigen Zeiten eigentlich eine gesunde Herausforderung, mit alten, sinnlos gewordenen Traditionen aufzuräumen und stattdessen neue einzuführen. Es kann gut sein, dass die neuen weniger wässrig sind als die alten. 

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* nicht überall, wo „missional“ draufsteht, ist auch missional drin.

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