„Ihr müsst nachsichtig mit mir sein, denn an diese Regelung werde ich mich nicht halten.“ Das waren so ziemlich die ersten Worte, die Denis zu mir sagte. Und weil ich ihn wohl perplex ein Moment zu lange sprachlos ansah, legte er gleich nach: „Aber ihr habt ja „Gnade“als wichtigen Grundwert in Eurer Organisation. Davon habe ich schon viel gehört. Ihr seid echt cool drauf. Das wird also kein Problem für Euch sein.“
„Die meisten Menschen haben Probleme, sich an Regeln zu gewöhnen, die man noch nicht kennt.“ erwiderte ich. Ich wusste nämlich nicht recht, wie ich Denis‘ Aussage zu deuten hatte. War es ein Zeichen von Arroganz? Egoismus? Falschen Erwartungen? Oder war es einfach nur primitiv? Ich fragte mich außerdem, warum Denis mir nicht erzählte, aus welchem Grund diese Regel ein Problem für ihn sein würde. Er setze einfach voraus, dass solche Dinge nicht für ihn gelten.
Um dies herauszufinden, würde ich betonen müssen, dass jene Regel nicht einfach so aufgehoben würde. Also frage ich, warum er es nicht einfach mal probiere, bevor man Ausnahmen aushandele. Und mit probieren meinte ich dieser Regel eine faire Chance geben. Nicht nur flüchtig so zu tun, als hätte man es versucht.
Denis‘ Reaktion war heftig. Arme wedeln, laute, zitternde Stimme. Paragraphenreiter seien wir. Wir sollten gefälligst gnädig sein. Er erwarte, dass wir ihm gnädig seien. Sonst würde er wieder gehen. Und dann müssten wir ja in Zukunft ohne ihn auskommen. Damit war das Gespräch beendet.
In der folgenden Zeit hörte ich von mehreren Kollegen, dass Denis sich bei ihnen beschwert hatte. Man habe ihm keine Gnade erwiesen, war wohl immer wieder sein Hauptpunkt. Doch mit wem er auch sprach, alle fanden, dass diese Regel durchaus sinnvoll sei. Schließlich gab Denis auf und spielte für längere Zeit die beleidigte Leberwurst. Plötzlich waren wir alle wohl doch nicht mehr so cool drauf.
Denis symbolisiert einen typischen Christen des 21. Jahrhunderts: Das „Alles ist erlaubt!“ der Postmoderne wird mit einem der wichtigsten Wörter der Bibel gerechtfertigt: Gnade. Wenn du nicht willst, wie ich wohl will, geb ich dir eins auf’s Dach! Du musst mir schließlich gnädig sein. Es ist die Pflicht, denn du bist Christ.
So nachdenkenswert vieles auch sein mag, Denis und seine postmodernen Seelenverwandten scheinen blind für das zu sein, was Gnade Gnade sein lässt: Man kann sie nicht verdienen, nicht erzwingen, noch nicht einmal erwarten.
Doch in unseren Zeiten glauben wir, man habe ein „Recht auf Gnade“. Wem keine Gnade gewährt wird, fühlt sich ungerecht behandelt. „Anspruchshaltung“ wird eins der größten Probleme westlicher Gesellschaften werden. Gemeinden inklusive. Gnade ist Allgemeingut geworden. Sie wird einem wie Ramsch nachgeworfen. Alles erlaubt, alles geht.
In frommen Kreisen liegt der Kern der Sache wohl im Gottesbild. Nur wenige sehen in Gott ein extrem gutes, extrem großes und extrem gefährliches Wesen. Sich mit Gott anzulegen gleicht dem Wahn, Naturgesetze ändern zu können. Sich Gnade erzwingen zu wollen, ist ebensolcher Wahnwitz. Gnade wird nur dem gegeben wird, der sich selbst in das „Joch der Nachfolge“ zwingt. Doch Jesus betonte, dieses Joch sei sanft (Mt 11,30) – im Vergleich zu anderen Zwängen der Welt.
Wenn Gott etwas sagt, dann ist es so. Wenn er etwas bestimmt, dann ist es entschieden (4Mos 23,19).“Geht es um Macht und Gewalt: Er hat sie. Geht es um Recht: Wer will ihn vorladen? (Hiob 9,19)“. Gott ist Liebe, Gott ist gut, aber Gott nahe kommen, heißt trotzdem sterben. Wir ertragen seine Kraft nicht. Wir können uns auch keiner Sonne nähern, noch nicht mal in den Mariannegraben tauchen. Jeder weiß es, jeder hält’s für logisch. Nur bei Gott erwarten wir, dass es trotzdem möglich sein muss. Und weil Gott Liebe und gut ist, macht er es sogar möglich. Gnade wird dem gewährt, der sich in Jesus versteckt. Und NUR dem.
Es ist kein Recht und kein Verdienst. Es ist Gottes Entscheidung. Er stellt die Bedingungen, nicht wir. Gnade ist nur Gnade, wenn es ohne sie weder Vorbei noch Pardon gibt. Gnade ist kostenlos, doch sie hatte ihren Preis. Wem Gnade nichts wert ist, weiß nicht, was sie wert ist. Marktschreier für die Schleuderware Gnade haben in Gemeinden nichts zu suchen. Deswegen begleite ich solche, die mir drohen, wieder zu gehen wenn ich ihnen nicht „gnädig“ sein will, gerne unmittelbar bis zur Tür und verabschiede mich direkt. An der Tür angekommen warte ich lieber darauf, jemanden begrüßen zu können, der weiß, was ein Schatz im Acker ist.
(Eigene Collage nach dem Buchcover „Nachfolge“. Das Zitat ist der erste Satz des ersten Kapitels „Die teure Gnade“.) |