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Die Lehre der Leere (2): Die Natur der Schätze

Eine Tasse.

Sollte sich mein Verdacht bestätigen, war dies in zweifacher Hinsicht kritisch. Erstens gehört weder gelb noch rot noch tassenrund zu den Empfehlungen meiner persönlichen Farb- und Formberaterin, übrigens auch nicht zu meinen Lieblingsfarben, und zweitens war ich seit fünfundzwanzig Jahren mit einer Jägerin und Sammlerin verheiratet, die keinen Handwerkermarkt, kein Töpferstudio beutelos verlassen konnte, und deswegen gehörte ich zur Spezies der wenigen Privilegierten des Globus, die mit Fug und Recht von sich behaupten konnten, sogar mehr als alle Tassen im Schrank zu haben. Doch jene Ehre war untrennbar an eine große Not gekoppelt: Platznot in allen Schränken und Vitrinen, auf sämtlichen Regalbrettern und freien Flächen, weswegen jede neue Tasse, ob groß, ob klein, ob hübsch, ob hässlich nur mit Gefühlen entgegengenommen werden konnte, die sich wortlos durch leichte Kopfschräglage, ungewöhnlich breites Grinsen, zusammengebissene Schneidezähne und aufgerissene Augen offenbaren.

Erst in sicherer Entfernung, nachdem der Kollege seinen Volvo weit genug bis auf die Autobahn gesteuert hatte, fand ich den Mut, den Deckel leicht zu öffnen, um einen vorsichtigen Blick mit einem Auge durch den schmalen Schlitz werfen zu können, fast so, als fürchtete ich einen Springteufel darin, der verzweifelt sprungbereit auf seine Freiheit wartete. Doch was ich sah, war – eine Tasse. Gelbrot leuchtete sie mir entgegen. Reflexartig schlossen sich meine Augen, gleichzeitig drehte ich den Kopf weg und verschloss den Schlitz wieder.

Und genau deswegen entdeckte ich den Schatz nicht.

Wegen meiner geschlossenen Augen. Mit geschlossenen Augen sieht es sich zwar eigentlich besser, weil man so die Zukunft sehen kann, Dinge, Geschichten oder Orte, die es noch gar nicht gibt, Konstruktionen, Bilder oder Ideen, die erst noch geboren werden wollen, und obendrein sieht man auch die Vergangenheit, was geschah, als es mich noch gar nicht gab, wie Jesus am Kreuz oder Luther mit den Nägeln in der Hand, man sieht sogar die einzigen Wesen, die nicht massenweise durch die Sintflut umkamen, nämlich die Tiefseefische und Meeresungeheuer, klar und deutlich sieht man sie, in 3D und 4K, man sieht die eigene Geburt und den Moment, in dem der Sardeckel sich über den geschlossenen Augen schließt, man kann beobachten, wie die wenigen Nanosekunden dazwischen an die Ewigkeiten davor und danach gekoppelt werden. All das sieht man mit geschlossenen Augen.

Aber einen Schatz, und ich meine einen wahren Schatz, kann man nur mit offenen Augen sehen.

Es gehört ja zur Natur der Schätze, schwer gefunden werden zu wollen. Warum sonst gäbe es die legendären Schatzkarten? Man muss all seinen Grips zusammennehmen, jede Eventualität in Erwägung ziehen, Mögliches und Unmögliches, Kosten und Mühen investieren, Risiken eingehen, vielleicht sogar sein Leben auf’s Spiel setzen, sich auf den Weg machen, suchen, graben, schwitzen, weitergraben, nicht aufgeben, Schwielen pflegen, weitergraben, weitersuchen, wenn nicht hier, dann woanders. Das wusste schon König Salomo, dass Schatzsuche Schwerstarbeit ist, und wer zu faul ist, die Augenlider einen Augenblick länger offenzuhalten, der erkennt noch nicht mal einen Schatz, der ihm freiwillig ins Auto auf den Schoß springt.

Fortsetzung folgt.

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