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Am Anfang war das Evangelium

Etappe 5

(Wer mit der ersten Etappe beginnen will, klickt hier.)

Beginnt die Geschichte der „Guten Nachricht“ erst im dritten Kapitel der Bibel – dem „Sündenfall“, einer der wohl schlechtesten Nachrichten im Buch der Bücher? Rettung von Sünde und Strafe zum Kern der Guten Botschaft zu machen ist zwar verständlich, aber kurzsichtig. Denn wer zwei Kapitel früher beginnt, hat viel mehr vom Evangelium, finde ich.

Wir im Westen haben keinen rechten Plan vom Konzept der Ehre. Wir bezeichnen zum Beispiel die Ehrenkulturen der Welt als „Schamkulturen“. Das ist nicht falsch, andererseits behaften wir den größten Teil der heutigen Menschheit durch ein einziges Wort mit Schande und schauen etwas schräg auf Länder herab, in denen zweifelhafte Dinge wie zum Beispiel „Ehrenmorde“ vorkommen sollen. Unsere eigene kommt als „Schuldkultur“ zwar auch nicht viel besser weg. Mit einem einzigen Wort präsentieren auch wir unser Selbstbild als schuldbeladene Sünder. Aber immerhin haben wir im Westen ja das Evangelium der Sündenvergebung, das uns von unserer Schuld reinwäscht. Das ist die Lösung und scheint uns im internationalen Vergleich etwas besser dastehen zu lassen.

Schuldig ist, wer durch falsche Handlungen ein Gesetz gebrochen hat. Unsere Version der „Guten Nachricht“ dreht sich stark um Tätigkeiten, was man alles so tut oder eben nicht tut, getan hat oder tun wird, richtig oder falsch macht, und – nicht zuletzt – was Jesus für uns getan hat. Gemäß unseres formellen Gottesbildes scheint es Gott sehr viel wichtiger zu sein, was ich tue als wer ich bin. Er liebt uns, so predigen wir, doch gefühlt nur solange wir nichts falsch machen. Das wäre eine Erklärung, warum die theologische Erzählung unseres Evangeliums – ebenfalls gefühlt – mit dem Sündenfall beginnt, den wir als klassische Fehlhandlung und damit Gesetzesbruch interpretieren. Meine Frau war letzten Monat auf einer evangelistischen Fragestunde, wo junge Leute Fragen zum Christ-Sein stellen konnten. Fast alle Fragen hatten denselben Tenor: Wo genau geht die Grenze zur Sünde, was darf ich noch, was nicht mehr? Bleibt sündenfrei, wer artig ist? Ist Rauchen Sünde? Oder erst, wenn’s Hasch ist? Darf man der Freundin auf, aber nicht unter den BH gehen? Wie lange nickt Gott zufrieden, wann wird er böse? Regeln, Grenzen, Sündenkataloge sollen das klären. Entsprechend wird unser Evangelium im Grunde nichts anderes als die Story einer riesige Gerichtsverhandlung mit Straftaten, Anklage, Gerechtigkeit, Verhandlung, Strafe, Freispruch oder Begnadigung. Und jeder kriegt eine Rolle in dem Stück.

Ist das eine gute Nachricht? Die Gute Nachricht…?! Ist das alles? Oder sind wir blind für die ganze Wahrheit? Die Pharisäer haben schießlich auch gedacht, sie blicken’s voll, doch Jesus meinte: „Ihr blickt gar nichts.“ Als Gemeindegründer habe ich schon lange und oft gesagt, dass unser Evangelium einer „sündlosen“ Gesellschaft weniger zu sagen hat als jede x-beliebige archäologische Ausgrabung. Doch auf der Suche nach Hoffnung in der nahenden Klimakatastophe muss ich nach dem Silber und Gold der Weisheit graben. Und finde Nuggets. Das der Ehre zum Beispiel.

In Ehrenkulturen ist das Evangelium ein völlig anderes Konzept. „Jesus starb für Deine Schuld!“ ist dort völlig bedeutungslos. Irrelevant, belanglos, uninteressant. „Jesus starb für Deine Scham!“ sagt dort viel mehr aus. Das mag für uns wiederum recht merkwürdig, fast schon ulkig klingen. Doch genauso, wie Schamkulturen von unserer Vergebung lernen können, können Schuldkulturen das Motiv der Ehre erlernen. Ich fürchte sogar, dass es für uns mehr zu lernen gäbe als für die.

Die Gute Nachricht handelt in einer Ehrenkultur nicht so sehr von Regeln und Gesetzen, sondern von Beziehungen und Status. Wer kennt wen, wer gehört zu wem, wer hat Macht, Reichtum und Einfluss – und wer nicht.

Es geht weniger um das interne Gewissen, sondern um die Rolle in der Gemeinschaft. Unser sprichwörtliches „schlechte Gewissen“ bezeugt uns den Bruch einer Regel, die wir von klein auf verinnerlicht haben. Selbst, wenn niemand da ist, fühlen wir uns mies. Ehrenkulturen kennen kein schlechtes Gewissen. (Wirklich! Das Gefühl des schlechten Gewissens ist ihnen unbekannt.) Sie sind stattdessen darauf sensibilisiert, wie man von der Gruppe gesehen bzw. angesehen wird. Hier finden Gefühle statt.

Das Problem der Sünde ist nicht, falsch gehandelt zu haben, sondern falsch zu sein. Entsprechend ist Vergebung gegenstandslos. Wenn das Problem nicht eine Handlung, sondern meine Person, meine Identität ist, landet die Seele in einem sehr viel schwerer zu lösendem Dilemma.

Die Folgen der Sünde treffen nicht – wie bei uns – den Einzelnen, das Individuum, sondern die ganze Gruppe. Wenn ich das Problem bin, nicht meine Taten, sondern meine Person, mein Status, meine Unfähigkeit, dann zieht es das Prestige der ganzen Gemeinschaft herunter.

Deshalb geht es weniger um Bestrafung des Individuums zur Büßung von Straftaten. Es geht um den Ausschluss aus der Gemeinschaft und Liebesentzug und das damit erlebte Bedürfnis, sich verstecken zu müssen, weil man seinen Wert verloren hat und um sich der gefühlten und erlebten Schande entziehen zu können.

Und schließlich: Die Lösung ist nicht die Vergebung sündiger Taten, sondern die Annahme der Person, Wiederherstellung der Ehre und feierliche Wiederaufnahme in die Gemeinschaft.

Wir merken schon bei dieser sehr oberflächlichen Betrachtung: Das Evangelium der Ehre ist sehr viel persönlicher. Es kommuniziert direkt mit unserer Seele. Das Evangelium der Vergebung ist natürlich überhaupt nicht falsch. Tun, Handeln und Entscheiden ist und bleibt extrem wichtig. Dennoch kommt es mir manchmal so vor, als sprächen wir bei den „vier geistlichen Gesetzen“ nur über den staubigen Appendix im Anhang eines sonst so wundervollen Buches.

Die ganze Bibel entstand von der ersten bis zur letzten Seite in Ehrenkulturen. Selbst bei der obigen einfachen Zusammenfassung merken wir das, uns fallen z.B. sofort Bibelstellen ein, wie die von Adam, der sich verstecken wollte oder der Verlorene Sohn, dessen Wiederaufnahme in die reiche Familie mit Fest und Musik gefeiert wird. Dennoch lesen wir die Bibel mit unserer Brille einer Vergebungskultur. Dieser Filter macht uns blind für zahllose Hinweise und Aussagen in und zwischen den Zeilen, die nichtwestliche Leser als selbstverständlich auf- und mitnehmen.

Hier sind nur zwei Beispiele:

In Markus 9,33-34 lesen wir von den Jüngern, die darüber streiten, wer von ihnen der Größte sei.

Was wir hören: Völlig unmöglich, diese Jünger, so was von kindisch. Reife Leiter würden niemals der Größte sein wollen.

Was wir verpassen: Jesus findet es völlig okay, der Größte sein zu wollen, schließlich will er selbst der Allergrößte sein. Er gibt sogar Hilfestellung, wie genau dieses Ziel zu erreichen ist.

In den Evangelien lesen wir von unzähligen Wundern und Heilungen, die Jesus vollbringt.

Was wir hören: Jesus tut viel Gutes für geplagte und kranke Individuen. Ich sollte auch ein moralisch besserer Mensch sein und mehr Gutes für die Armen tun.

Was wir verpassen: Jesus gibt die Ehre der Welt öffentlich der Lächerlichkeit preis, er stellt die prominenten Machthaber als dumm und unfähig hin indem er seine unglaublich viel größere Macht zur öffentlichen Ehrung des vermeintlichen Abschaums einsetzt (besonders deutlich in z.B. Matthäus 12,8ff).

Nun – endlich! – können wir uns unserem eigentlichen Text des Alten Testaments zuwenden, der nach den kurzen neutestamentlichen Betrachtungen im vergangenen Beitrag heute an der Reihe sein soll. Denn erst nach dieser bescheidenen Einführung bekommen wir eine winzig kleine Vorstellung von der epochal gigantischen Bedeutung von 1. Mose 1,27:

Hier geht es nicht darum, was wir tun, es geht darum, wer und was wir sind. Es geht um Ehre und Status, und zwar in einer Dimension, die unser Denken übersteigt: Der glorreiche König, der reine, treue, großzügige Vater, unendlich reich und mächtig, gut und erhaben, Urgrund und Quelle aller Ehre, krönt den Menschen mit Herrlichkeit, Macht und Ruhm, den Allmächtigen zu vertreten und persönlich zu verkörpern, Gottes Mitregenten zu sein über allem, was Geschaffen ist, Pflanzen, Tiere und Engel, seine Liebe über alle Schöpfung zu verteilen und unter seinem Namen selbst zu schaffen, Namen und Gesetze zu geben, prächtige Vermittler zwischen Schöpfer und Schöpfung zu sein. Die strahlende Würde des menschlichen Status als Gottes Ebenbild sollte die einzige und prächtigste Kleidung sein, die Gott selbst sich für uns erdenken konnte.

Lassen wir das einen Moment wirken.

Plötzlich ergibt auch der Imperativ „machet euch untertan“ einen völlig neuen Sinn! Ja, das hebräische Wort kabash bedeutet sehr wohl „untertan machen“, „unterwerfen“ und sogar „niedertrampeln“, doch wenn wir versäumen, es im Kontext von 1. Mose 1 & 2 zu interpretieren, machen wir einen tödlichen Fehler! Denn der Schöpfer macht uns als sein Ebenbild zu seinen Mitregenten und Co-Schöpfern. Als Heimat und Ausgangspunkt hatte er uns den Garten Eden gegeben, doch dieser war geografisch begrenzt. Außerhalb dieser Grenzen war Urwald und Wildnis voller Unglaublichkeiten, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Jenes Tohuwabohu außerhalb Edens erinnert uns an 1. Mose 1,2, wo Gott beginnt, sich des Formlosen zu bemächtigen und aus Chaos eine Welt zu gestalten. Das bedeutet kabash: „Sei wie ich, Mensch, denn dazu bist du da, und schaffe aus dem Wildwuchs etwas Schönes, wie es dir gefällt.“

Und alle Tiere, Engel und Dämonen oder sonstige Wesen, die es irgendwo geben mag, ja, sogar die Dreieinigkeit höchstpersönlich sollte, wenn man den Menschen bei seinem Schaffen und Wirken auf der Welt beobachtete, erstaunt über seine Genialität, zu nur einem einzigen Schluss kommen können: „Seht mal alle her, was der Mensch hier schafft und wirkt ist sehr gut. Wirklich, der Mensch spiegelt Gott in seiner Liebe und Weisheit, in seinem ganzen prächtigen Wesen perfekt wider.“

Was wir heute Evangelium nennen, nahm keinen geringeren Anfang als diesen. Der Mensch ist nicht als Wurm gedacht, sondern als Ebenbild des Allmächtigen. Das ist der Maßstab, an dem wir uns messen lassen sollen und auch gemessen werden, kein geringerer. Das ist das Ziel, nach dem wir streben, selbst wenn es noch unerreichbar scheint.

Und was unseren Umgang mit der Schöpfung angeht, müssen wir uns ebenfalls diesem Standard stellen:

  • Sind wir uns unserer Ehre bewusst?
  • Sind wir uns unserer Verantwortung bewusst?
  • Spiegeln wir den Schöpfer wider?
  • Sind und leben wir Liebe?
  • Wie legen wir kabash aus und wie würde der Herr der Schöpfung es an unserer Stelle tun?
  • Was würden andere Geschöpfe sagen, wenn sie Gottes Ebenbild auf der Erde kommentieren könnten: „Und siehe, alles was sie tun, ist sehr…“?!
  • Angenommen sie sagten „… ist nicht gut!„, was kannst Du persönlich verändern, um den Geschöpfen in Deiner Welt bessere Rückschlüsse zu ermöglichen?
  • Möchtest Du geehrt sein?

Auf unserer Suche nach Weisheit dürfen wir das nie, niemals vergessen.

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