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Quelle des Lebens

Heute ist Sonntag – überall werden Gottesdienste gefeiert. Bei uns gibt es keine typischen Gottesdienste, sondern eher ein Onlinegespräch nach einer Andacht oder Minipredigt. Die Gespräche wurden schon immer von großer Ehrlichkeit geprägt – gerade, weil so mancher unserer Teilnehmer Gemeinde eher als eine Bande schlechter Schauspieler, Möchtegerne oder sogar ausgewachsener Heuchler erlebt hat. Oder, weil manche sich eher im Atheismus als in Kirchen zu Hause fühlen. Meistens folgen wir den Themen des (schwedischen) Kirchenjahres. Heute war es „Quelle des Lebens“ und ich hatte das Vorrecht, die Andacht zu halten und das Gespräch zu leiten. Wer mag, kann mit dieser Übersetzung hier einen Eindruck gewinnen, wie unsere Treffen so ablaufen.

[Wir fangen üblicherweise pünktlich um 11 Uhr an, kurz vor 11 ist das Team online, jemand vom Team begrüßt alle, die sich gerade einloggen, hält etwas Small-Talk und gibt das Wort dann an den, der die Andacht oder Minipredigt hält.]

Apurimac

Genau heute vor 4 Jahren, am 16. Januar 2018, hatte ich die völlig unerwartete Gelegenheit, ein Bad im Apurimac, übersetzt „der sprechende Gott“, einem Fluss im Südosten Perus, zu nehmen. Aber das Besondere daran war nicht einmal die spektakuläre und dramatische Landschaft drumherum.

Das Sensationellste für mich war, dass ich mit eigenen Augen sehen durfte, mit meiner eigenen Haut jenes Wasser spüren durfte, das als Quelle des Amazonas gilt. Das kalte Nass, das meinen Körper umspülte, würde dann weiterreisen, exotische Tiere wie Piranhas treffen, sich bei Manaus mit den dunklen Wassern des Rio Negro vereinen und sich schließlich in der 180 km breiten Mündung des Amazonas verteilen. Das Wasser des Apurimac zwischen meinen Fingern, auf meinen Schultern, in meinem Gesicht zu spüren, war ein großartiges und einzigartiges Erlebnis.

Ich wäre gerne den ganzen Weg zur Ursprungsquelle gereist, aber die war immer noch zu viele Meilen entfernt in einem unzugänglichen Gebiet des Mismiberges, wo ein Gletscherbach als die entfernteste Quelle des Amazonas identifiziert worden war: Die Quelle zu einer 7000 Kilometer langen Geschichte, die unzähligen Kreaturen, Menschen, Tieren und Pflanzen Heimat, Nahrung und Leben bietet.

Das heutige Thema ist übrigens die „Quelle des Lebens“.

Und so ziehen meine philosophischen, theologischen und zugegeben etwas mystischen Gedanken bis in die Anden Südamerikas. Was ist die Quelle des Lebens? Was ist das eigentlich überhaupt, „Leben“?“

Es wird gesagt, dass alle verschiedenen Lebensformen bestimmte, gemeinsame Merkmale haben, die sie charakterisieren. Dazu gehören Reproduktion, Vererbung, Reaktion auf äußere Reize und Stoffwechsel.
Diese gelten als Kennzeichen des Lebens. So gesehen wird „das Leben“ zu einer riesigen Hierarchie, die mit Einzellern beginnt und mit der Summe der gesamten Biosphäre auf unserem Planeten endet. Es gibt unzählige Forschungsgebiete in den Lebenswissenschaften, wie Biologie, Medizin oder auch Soziologie. Heutzutage können wir zwar viele Fragen in diesen Wissenschaftsbereichen beantworten, dennoch bleibt die Frage nach der Quelle des Lebens ein Mysterium.

Das wird bei uns Menschen besonders deutlich, wenn es um eine der bereits erwähnten Eigenschaften des Lebens geht, nämlich unsere Reaktion auf äußere Reize. Nicht wenige forschen zum Thema „Bewusstsein“ oder „conciousness“, das zumindest uns Menschen charakterisiert und sich als ein zutiefst mysteriöses und sogar spirituelles Forschungsgebiet erweist. Die große Frage in diesem Bereich ist das, was internationale Wissenschaftler „das schwierige Problem“ nennen, und es lautet wie folgt:

Wie kann es sein, dass subjektive Erfahrungen in einem objektiven Gehirn entstehen?

The Hard Problem“ in der Bewusstseinsforschung


Etwas anders ausgedrückt: Wenn wir später Bachs Ouvertüre Nr. 3 „Air“ hören, werden jedem von uns andere Details auffallen, das Stück wird andere Gefühle und Gedanken wecken – obwohl es dieselbe Musik ist, die wir hören. Wir wissen nicht einmal, ob der Klang, den du als „Geige“ identifizierst, in deinen Ohren exakt genauso klingt wie der Klang, den ich oder jemand anderes als Geige identifiziert. Wie kann es also sein, dass subjektive Erfahrungen in einem objektiven Gehirn entstehen? Das ist das „schwierige Problem“, und es wurden viele Studien durchgeführt, viele Theorien entwickelt, viele Bücher geschrieben, und die kurze Antwort auf all das lautet:

Niemand weiß es so genau.

Die Antwort auf „the Hard Problem“ in der Bewusstseinsforschung

Wir wissen’s einfach nicht. Bei aller wissenschaftlichen Forschung entgeht man deshalb auch nicht der Religion. Forscher können Fragen wie „Was ist eigentlich die Seele?“ oder „Wie beschreiben Religionen das Leben und seine Entstehung?“ nicht überspringen. Und so kann man dann Aussagen wie folgende lesen:

„Wenn es eine Seele gibt, kann die Wissenschaft sie noch nicht messen.“

Das ist in jedem Fall eine ehrliche Aussage. Aber das „schwierige Problem“ ist eigentlich nur eine Konkretisierung einer ähnlichen, wenn auch noch größeren Frage: Wie kann es sein, dass Leben aus toter Materie entsteht? Hier wurde noch mehr geschrieben und geforscht – doch die Antwort ist wieder dieselbe: Niemand weiß es, zu viele Links fehlen einfach noch. Der Wissenschaft ist es bis heute nicht gelungen, Leben aus toter Materie zu erschaffen. Und solange die letzten Glieder fehlen, bleibt alles andere reine Theorie. Obwohl diese Theorien faszinierend sind, muss man dennoch selbst wählen, ihnen Glauben zu schenken.

Wie du vielleicht bemerkst, habe ich versucht, mich ein wenig in solche Themen einzuarbeiten, weil ich, der ich nicht in einem religiösen Kontext aufgewachsen bin, einfach wissen wollte – und immer noch wissen will –
woran ich eigentlich glaube, und warum ich gerade an meine Überzeugungen glauben will.

Wir sind uns wahrscheinlich alle einig, dass im allerersten Moment, jenem Augenblick, in dem das Leben selbst entstand, kein Mensch anwesend war. Weil es keine Augenzeugen gibt, hängt so viel davon ab, woran man glaubt, und deshalb entscheide ich mich, an einen Schöpfer zu glauben. Einen Schöpfer, der sich zwar auch nicht erklären lässt, aber allem einen Sinn gibt.

Einige mögen denken, dass dies lächerlich ist.

Und dann darf es ruhig lächerlich sein.

Vielleicht treffe ich diese Wahl aber auch aus egoistischen Gründen, weil ich denke, dass die Schöpfungsgeschichte so viel Kunst und Kreativität, so viel Bedeutung, so viel Ästhetik und vor allem: so viel Symbolik hergibt.

Hier finden wir nicht nur die Lösung des „schwierigen Problems“, denn der Schöpfer selbst hat uns durch unsere Luftwege Leben eingehaucht, und auf diese Weise wurden wir nicht nur zu lebendiger Materie, sondern zu spirituellen Wesen.

Natürlich ist das Leben auch Chemie, Physik, Biologie usw., aber vor allem ist das Leben etwas Spirituelles, etwas zutiefst Spirituelles, etwas, das wir niemals vollständig begreifen und verstehen werden – so wie der Schöpfer selbst immer größer sein wird als alles, was wir jemals begreifen werden.

Deshalb finden wir in der Schöpfungsgeschichte sogar Antworten auf einige der aktuellen und noch schwierigeren Probleme der Welt als das „schwierige Problem“.

Durch die Schöpfungsgeschichte verstehen wir nämlich, dass das Leben ein Kuss ist, ein sehr persönliches, fast ein wenig erotisches Liebesgeschenk an uns, eingehüllt in eine unfassbar schöne und fantastische Schöpfung.

Diese Einsicht hilft uns, zu schätzen und wertzuschätzen, was wir erhalten haben, das Leben und die Schöpfung, die uns umgibt – und diese Wertschätzung sollte uns zu Dankbarkeit, Fürsorge, Demut und vor allem: Liebe motivieren. Diese Liebe soll uns davon abhalten, unsere gegebene Verantwortung für die Schöpfung aufzugeben und stattdessen deren Besitz zu fordern.

Wenden wir uns nämlich von dem ab, der das Leben in uns geküsst hat, dann spiegeln wir unsere Quelle des Lebens nicht mehr wider.

Wenn wir die Quelle des Lebens nicht reflektieren, verwandeln wir das Staunen über unseren Schöpfer in die Bewunderung dessen, was wir selbst durch Ausbeutung der Ressourcen der Schöpfung vollbracht haben.

Wenn wir uns selbst mehr bewundern als den Schöpfer, dann kommt genau die Stellung zutage, die der Mensch in der Natur einnimmt – aber auf eine sehr beängstigende Weise: Weil es von allen Lebewesen auf Erden, von einzelligen Organismen bis hin zur gesamten Biosphäre des Planeten nur dem Mensch möglich ist, einen ganzen Gletscher am Mismiberg in den Anden schmelzen zu lassen! Keine Kuh, kein Löwe, kein Bär, kein Vogel, kein Insekt hat die Kraft, eine der wichtigsten Quellen Südamerikas auszutrocknen!

Doch damit nicht genug, auch im Himalaya und der tibetischen Hochebene schmelzen Hunderte von Gletschern, die bisher Milliarden Menschen mit Wasser versorgen. Was wird auf dem Planeten passieren, wenn der Apurimac verstummt und bestenfalls zum Bach wird, wenn sich der Amazonas-Dschungel zur Wüste verwandelt und Asien weder seinen Reis gießen noch seine Kinder stillen kann, während gleichzeitig auch noch das arktische und antarktische Eis schmilzt und das immer saurer werdende Meerwasser der Welt ansteigt und in unsere Hafenstädte eindringt?

Die Quelle des Todes

Wir werden dann vielleicht erkennen, dass es nicht das Feuer der Liebe war, das uns hier angetrieben hat, nicht die Liebe zu unserem Schöpfer und zu dem, was er geschaffen hat, nein, stattdessen hatten wir selbst lieber ein eigenes, ein ganz anderes Feuer entzündet, das sowohl unsere Gier anheizt als sich auch noch leider unserer Kontrolle entzogen hat, ein Feuer, das in Dampfmaschinen zu brennen begann und in unseren großen Kraftwerken oder unter wohlgeformten Motorhauben mit Klimaanlage und fetten Bässen aus den Boxen unsichtbar und unhörbar immer weiter und immer weiter brannte und brannte, und wir alle fanden es ganz furchtbar cool, was unser Feuer alles so kann, ein Feuer, dessen unsichtbarer Rauch den Treibhausgasemissionen von 666 isländischen Eyjafjallajökull-Vulkanausbrüchen im Jahr 2010 entspricht. Der Mensch ist täglich für 666 Eyjafjallajökull-Eruptionen verantwortlich – Tag für Tag für Tag für Tag.

666.

(Der Faktor, mit dem man die Treibhausgasemission des Vulkanausbruchs des Eyjafjällajökull 2010 multiplizieren muss, um die täglich produzierte Menge Treibhausgase der Menschheit zu erhalten.)

Wenn der Mensch sich also von dem abwendet, der ihm das Leben eingeküsst hatte, um losgelöst von seinem Macher sein ganz eigenes Rennen laufen zu können, dann wird der Mensch damit zur Quelle des Todes.

Unsere Generationen haben heute endlich das Privileg, live mitzuerleben, welche Macht ausgerechnet dem Menschen zuteil geworden ist. Der Mensch, Ebenbild des Schöpfers, geschaffen also, um den Schöpfer widerspiegeln zu können. Deshalb bekommt dem Wort „Umkehr“ in unserer Zeit eine ganz neue Bedeutung zu: Wir müssen uns ihm wieder zuwenden. Wir müssen ihn wieder lieben lernen. Wir müssen ihn demütig bitten, ob er uns nicht vom schwarzen Ruß auf unserer Spiegelfläche reinigen mag.

Und so wird er darauf eingehen. Er wird uns reinigen.

Einmal gereinigt und dem Schöpfer wieder zugewandt wird die Quelle des Lebens wieder sichtbar werden – in uns, an uns, auf uns – ja, uns total normalen, gewöhnlichen, sterblichen Menschen.

Je mehr Menschen umkehren und sich reinigen lassen, desto fröhlicher und lebendiger wird unsere Hoffnung für die Zukunft werden.


[Soweit also mein Vortrag, im Anschluss denkt jeder für sich ein paar Minuten über das Gesagte nach, während wir Johann Sebastian Bachs Overtüre Nr. 3 „Air“ anhören:]


[Hier beginnt das gemeinsame Nachdenken im Dialog. Ich setzte das Gespräch ungefähr so in Gang:]

„Quelle des Lebens“. Dazu gäbe es unglaublich viel zu sagen. Das Erste, woran ich dachte, war der Apurimac in Peru. Was ist das Erste, woran Du denkst?“

[Am Ende schließen wir mit einem Gebet ab, dass oft auf das Gesagte oder erwähnte Gebetsanliegen eingeht. Die Teilnahme am Gebet ist ausdrücklich freiwillig, aber eigentlich bleiben immer alle dabei.]


Beitragsbild:

Der Ausbruch des Eyjafjallajökull 2010 war der erste „grüne“ Vulkanausbruch seit Bestehen der Erde, weil durch den wochenlangen Flugstopp viel mehr Treibhausgase vermieden wurden, als der Vulkan selbst freigesetzt hat.

Credits:

„Eyjafjallajökull ash plume“ by Gunnlaugur Þór Briem on Flickr.

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