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Der „Subtext“ deiner Gemeindeleitung

Viele Künstler sind Meister darin, Wahrheiten wortlos auszudrücken. Das obige Gemälde „Der Einzug Christi in Brüssel 1889“ von James Enson ist nur ein Beispiel. Man muss sich Zeit nehmen, versteckte Botschaften zu entschlüsseln. Aber im Grunde sind wir alle Lebenskünstler mit zahllosen verborgenen Aussagen – auch in der Gemeindeleitung.

In einem gut gemachten Film bleibt nichts dem Zufall überlassen. Jedes einzelne Bild wird sorgfältig designed. Das englische Wort subtext fasst alles zusammen, was ein Regisseur bewusst in einen Film einbaut, aber nur unbewusst wahrgenommen wird. Das kann alles sein, von der Bildgestaltung, der Wahl der Geräuschkulisse über kleine Details im Hintergrund oder symbolische Gegenstände bis hin zum Farbschema. Subtext erzählt eine eigene Geschichte, schafft Gefühle, gibt Ahnungen, führt den Zuschauer irre oder auf die Spur, ohne dass dieser es überhaupt mitbekommt. Gute Filme sind deshalb echte Kunstwerke. Es macht Spaß, einen Film an einer x-beliebigen Stelle anzuhalten, um den zufällig gewählten Frame auf seine non-verbale Symbolik auszuwerten. Erstaunlich, was sich dort alles findet.

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich eine ähnliche Übung gemacht, aber nicht alleine, sondern mit Studenten. Wir drückten ebenfalls den Pausenknopf, denn auch hier ging es um subtext – diesmal aber nicht im Film. Es ging es Menschenführung. Wir nahmen uns Zeit, viele non-verbale Botschaften beim Thema Leitung in Gemeinden zu analysieren. Wir gingen Bücher zum Thema „Leiterschaft“ durch, betrachteten Kursinhalte unter der Lupe und vieles mehr. Jeder hat dann eine eigene Zusammenfassung geschrieben, die dann gemeinsam diskutiert wurde.

„Erfolgsdruck“ steuert uns am meisten

Das Ergebnis: Vor allem in Freikirchen deute vieles darauf hin, dass eine Gemeinde von ihrer Leitung unterbewusst eher mit einer Firma verglichen wird. Viele Leitungsprinzipien stammen aus der Geschäftswelt: Vision, Zweck, Werte, Ziele, Strategien. Am deutlichsten sei dies beim Thema „Erfolg“: Im Business wie in der frommen Welt ernten vor allem jene, die „Umsatz“ machen, und davon möglichst viel und möglichst offensichtlich, den Ruhm als „erfolgreiche Leiter“. Als „frommer Erfolg“ werde dabei in der Regel eine wachsende, oder noch besser: eine große und wachsende, einflussreiche Gemeinde angesehen. Viele Bekehrungen und/oder Taufen vorweisen zu können, gibt zusätzliche Bonuspunkte. Mit diesem Maßstab werde unbewusst viel gemessen. Hat eine Gemeinde z.B. viele Menschen getauft, sei es wahrscheinlich, dass diese Tatsache schnell zur Beschreibung der Identität der Gemeinde herangezogen werde. Angewandte Geschäftspraktiken in einer Gemeinde verleiteten außerdem dazu, alles menschenmögliche unterschwellig höher zu bewerten als Gottes Wirken bzw. das geduldige Warten darauf.

Auch die Auswahl möglicher Mitglieder einer Gemeindeleitung orientiere sich stark an der Geschäftswelt: Wer Erfolg im Beruf hat oder angesehene Leitungsfunktionen in Firmen oder Organisationen bekleidet, habe größere Chancen, in eine Gemeindeleitung berufen zu werden als Menschen ohne Leitungsposten. Die Prinzipien der Businesswelt, so ein möglicher Rückschluss, scheinen mitunter so dominant zu sein, dass im Extremfall selbst die Theologie nur noch eine Nebenrolle als Lückenfüller spiele, keine Hauptrolle als das Skelett des Gemeindeorganismus: Die Bibel werde dann nur noch zur Bestätigung z.B. von Businessmodellen herangezogen, und nicht etwa umgekehrt. Doch damit stünde die Bibel nur noch als Betrachter und Kommentator am Rande, während in Wahrheit das (fromme) Business die Agenda bestimme. Dieser unausgesprochene „Subtext“ stehe in starkem und widersprüchlichem Kontrast zum offiziellen Selbstverständnis der meisten freien Gemeinden, die sich eigentlich und offiziell gerne als biblisch verwurzelt bezeichnen.

Import aus Amerika

Das neudeutsche Wort „Leiterschaft“ wie auch das schwedische ledarskap leiten sich vom englischen leadership ab, was auch inhaltlich seinen Ausdruck findet: Die meisten leadership-Prinzipien stammen aus dem angelsächsischen Raum, vor allem den USA. In unserer Auswertung wurde herangezogen, dass insbesondere das von der Chicagoer Willow-Creek-Gemeinde jährlich abgehaltene Global Leadership Summit (GLS) maßgeblich dazu beigetragen habe, die amerikanische Businesskultur in das Denken der Gemeinden zu übertragen. Der Wunsch, wie Willow-Creek auch etwas cooler und erfolgreicher zu erscheinen habe viele Pastoren und Gemeindeleiter empfänglich dafür gemacht. Dabei seien die meisten aber blind dafür geblieben, dass es sich hier um ein rein US-amerikanisches Phänomen gehandelt habe. Bemerkenswert fanden die Studenten aber auch, wie nach dem Fall Bill Hybels alle seine Bücher zum Thema Gemeindeleitung aus einschlägigen Kursen verbannt worden seien.

Aber auch andere Entwicklungen schon vor Willow-Creek, wie zum Beispiel die so genannte Church Growth Movement (Gemeindewachstumsbewegung), hätten maßgeblich zu diesem Trend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen.

Leiter als Narren?

Was die Studenten im Subtext des Themas Gemeindeleitung vermissen, ist eine bessere theologische Grundlage für NT-Leitungsprinzipien und Anleitungen zum Mut, diese auch wirklich zu wagen. Wie oft komme es zum Beispiel vor, dass in einer Gemeindeleitung Menschen mit niedrigem Status und geringer Ausbildung Gemeindemitglieder leiten dürften, die akademische Titel tragen und verantwortungsvolle Posten besetzen? Ein solches Modell käme vielen biblischen Prinzipien jedoch sehr viel näher als die sonst übliche Praxis, würde die Ehrung der Geringen und die Demut der Geachteten fördern.

Damit verbunden sei die Notwendigkeit, bei der Suche nach Leitern mehr Wert auf geistliche Qualitäten statt auf Leitungserfahrung in säkularen Berufen zu legen. So manches wichtige, mitunter prophetische Wort an eine Gemeinde verhalle völlig ungehört, weil es nicht von den „richtigen“ Personen komme. Geistliche Qualitäten wie Treue, Ausdauer oder Standhaftigkeit würden viel zu kleine Rollen spielen. Dieser Subtext führe dazu, dass sich ganz selbstverständlich immer nur derselbe Typ Mensch in Leitungsverantwortungen berufen ließe, für alle anderen komme das überhaupt gar nicht in Frage, obwohl Jesus auch und vielleicht gerade geringe Menschen berufen hat. Leiter müssten vor allem „Diener und Narren“ sein und sein wollen, meinten die Studenten und wiesen auf das gleichnamige Buch hin, das ihrer Meinung nach einen wohltuenden Kontrast im üblichen Leadership-Einheitsbrei darstelle.

Zum Schluss möchte noch einmal hervorheben, dass der Zweck dieser Übung war, den Pausenknopf zu drücken, um das Sammelsorium unterbewusster Leitungskulturen und -ausbildungen zu betrachten und um ein größeres Bewusstsein für den Subtext beim Thema Leitung in der Gemeinde zu schaffen. Denn nur, wer sein Unterbewusstsein etwas besser versteht, kann auch sein bewusstes Handeln besser artikulieren und damit verändern.

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