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Jesus kam nie mit plakativer Propaganda

Der christliche Dialog mit Andersdenkenden dient unserer eigenen Stärke, Reife und Glaubwürdigkeit. Vor allem aber verhindert er das Aussterben der europäischen Gemeinde.

„Ich stimme Atheisten in vielem zu, im Grunde in fast allem, außer, dass Gott nicht existiert“ sagt der tschechische Priester Tomáš Halík. Diese Aussage fand ich so wohltuend, dass ich das Buch, in dem ich sie fand, immer wieder mal zur Hand nehme und darin blättere, in seinen Geschichten, Gedanken und biblischen Auslegungen schmökere. Denn nach über 15 Jahren im „Außendienst der Kirche“, nach allen ungezählten Begegnungen, Geschichten, Mahlzeiten, Erlebnissen, Diskussionen und Umarmungen außerhalb kirchlicher Mauern kommt mir heute manchmal der erschreckende Gedanke, dass auch ich – ähnlich Halík – die Leute außerhalb der Kirche mittlerweile besser verstehe als jene, denen ich mich doch eigentlich zugehörig fühle – die Christen. Nein, keine Sorge, ich bin nicht dabei, vom Glauben abzufallen. Im Gegenteil.

Gerade durch die ewige Begegnung mit Zweiflern und Zweifeln scheint mein Glaube veredelt, kultiviert, gewürzt worden zu sein. Der Sinn einer Raffinerie ist es ja, einen Rohstoff durch Beseitigung von qualitätsmindernden Substanzen zu vervollkommnen; mittlerweile macht es mir sogar Freude, meinen Glauben von Zweiflern offiziell in Frage stellen zu lassen, um weitere, verborgene Schwachstellen in meiner Lebensphilosophie aufspüren zu können. Es sind also gerade die Andersdenkenden, die mein Denken schleifen und schärfen.

Man spricht lieber über als mit dem Zweifler

Was mich hingegen beunruhigt ist, dass ich wie Tomáš Halík viele Argumente und Kritikpunkte der Zweifler mittlerweile besser verstehe als so manche Gegenreaktion vieler Gläubiger. Viele kritische Fragen sind durchaus berechtigt, sinnvoll und angemessen. Das Dauerthema „Theodizee“ ist zum Beispiel immer noch nicht befriedigend gelöst, hat aber dennoch dank zahlloser Diskussionen und Beiträge eine Menge Denkansätze hervorgebracht, zu Gesprächen geführt und damit geholfen, vieles andere etwas besser zu verstehen – nicht zuletzt die Gesprächspartner. Wir brauchen solche Debatten, den Gedankenaustausch, die gemeinsame Erörterung. Deshalb beunruhigt es mich, mit welcher Furcht viele Glaubensgeschwister den Dialog mit Andersdenkenden zu vermeiden versuchen, lieber wegschauen oder gar die Straßenseite wechseln, als einem Zweifel zu begegnen und ihm vielleicht sogar tief ins Auge schauen zu müssen. In Gemeindekreisen liest und spricht man daher lieber über statt mit dem Zweifler. Und so manche „Antwort“, die man dort hört oder liest, tönt, als würden hier unschlagbare Argumente wie Waffen geliefert, doch kaum Hilfestellungen zum echten Zuhören und Verstehen. Das macht mir Sorgen.

„Lieber nicht! Es brächte meine Gemeinde zum Entgleisen!“

Jesus gab keine simplen Antworten, er kam nie mit plakativer Propaganda. Selten erwiderte er nur mit ja oder nein. Viel lieber entgegnete er Gegenfragen oder intressante, manchmal merkwürdige Geschichten, er regte zum Nachdenken an. Jesus suchte die Konfrontation, das Gespräch – ohne dabei wässrig und farblos zu werden. Bis heute werden seine Reaktionen gelesen und gedeutet. Seine heutigen Nachfolger machen sich hingegen gerade durch die Vermeidung der Auseinandersetzung belanglos. Ich erinnere mich an einen Pastor, der mir ausführlich erklärte, warum er seine Gemeinde nicht an einer von mir organisierten (und im Übrigen sehr christlichen) Konferenz zur Gemeinde der Zukunft teilnehmen ließ: „Allein die Themen dort hätten meine Gemeinde entgleisen lassen.“ Die Themen dort waren so „gefährlich“ wie die Bedeutung von Kunst in der Gemeinde, es war eine christliche Konferenz zur theologischen Reflektion von einigen aktuellen Themen – die er seiner Gemeinde dennoch aus Furcht vor Entgleisung vorenthielt. Wie will so eine Gemeinde das 21. Jahrhundert überhaupt überleben?! Das macht mir Sorgen.

Die fromme Blase als tödliches Gift

Und so ziehen sich viele Fromme vom pluralistischen Europa in ihre Blase zurück, trauern längst vergangenen Zeiten nach, als die Kirche noch mitten im Dorf stand, der Pfarrer noch etwas galt und es kaum Alternativen oder Andersgläubige gab. In dieser frommen Blase fühlt man sich sicher und geborgen vor des Teufels hypermodernen Marschflugkörpern, und Geborgenheit ist natürlich gut und wichtig. Doch Raketen braucht der Teufel überhaupt nicht, solange die Gemeinde gar nicht merkt, dass gerade die fromme Blase der perfekte Acker für die diabolische Saat des Glaubensabfall ist. Hier findet sie nämlich den perfekten Boden im perfekten Klima. Sie wächst sehr langsam doch ebenso sicher, und man bemerkt den Schmarotzer gar nicht. Denn in der frommen Blase wird man nie herausgefordert. Wer aber nie lernt, seinen Standpunkt im Gegenwind zu verteidigen, der kennt weder die eigenen Stärken und Schwächen noch die des anderen. Wie die Jünger in Gethsemane schlummern wir dahin in seliger Ruh, während unser Herr uns bittet, wachsam zu bleiben. Das macht mir Sorgen.

Schwimmen lernt man nämlich im See, Fahrradfahren mit blutigen Knien und Händen und der Glaube ist keine Pille, die man schluckt, sondern ein Lebenskonzept, das auf so etwas Unmöglichem wie die Auferstehung beruht und permanent trainiert und verfeinert werden muss. Unser Meister hat es uns vorgemacht: Ständig hat er seine Umwelt in Frage gestellt und sich selbst in Frage stellen lassen, um dann originell zu reagieren. Was wäre wohl aus Jesus geworden, hätte er das nicht getan? Wir wüssten nichts von ihm, und er wäre sicher nicht am Kreuz, sondern an Herzverfettung gestorben – ohne jede Hornhaut an seinen zarten Füßen. Genauso wird es auch uns gehen, wir werden am Bequemlichkeitsinfarkt umkommen, gestorben an einer Überdosis Gemütlichkeit. Wir kriegen nichts mehr mit und übersehen die Zeichen der Zeit. Erst werden wir vom Schlaf überwältigt, dann von der Realität. Doch da war die Öllampe auch schon leer. Das macht mir Sorgen.

Jesus schien die nicht-so-Frommen seiner Zeit besser verstanden zu haben als die Religiösen. Seine schärfste Kritik richtet sich an die Gläubigen. Priester wie Tomáš Halík, die auch viel mit nicht so frommen Leuten umgehen, begreifen das. Das gibt mir Hoffnung.

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