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„Wo der Geist des Herrn ist, da ist auch ein wenig Angst.“

Meine gestrige Ansprache bei Tro & Tvivel zum schwedischen Pfingstfest 2023, über die im Anschluss von und mit den Zuhörern diskutiert wurde. Ich habe den Anfang leicht an den heutigen Pfingstmontag angepasst.

Grafik: „very confused crowd of people from many nations in a city of postmodern architecture“ by DALL·E

Heute ist Pfingstmontag. Im Jahr 2004 beschloss die schwedische Regierung, diesen Feiertag abzuschaffen – zugunsten des Nationalfeiertags am 6. Juni. Wen interessiert das schon? Wahrscheinlich haben viele Menschen unserer modernen Gesellschaften sowieso keine Ahnung, was das ist – Pfingsten.
Allerdings gibt es in Schweden trotz allem wahrscheinlich noch viele, die Pfingstgemeinden kennen oder zumindest wissen, dass es so etwas wie Pfingstkirchen gibt. Wahrscheinlich haben die meisten schon mal eine gesehen (wenn auch nur von außen oder aus der Ferne). Aber warum die Pfingstler so heißen und worin das Ganze wurzelt, davon hat man wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung. [Anm.: In Schweden fand im 20. Jahrhundert u.a. eine pfingstliche Erweckung statt, wodurch im ganzen Land sehr viele Pfingstgemeinden entstanden. Die meisten existieren heute noch.]

Die Unwissenheit über Pfingsten ist vielleicht auch entstanden, weil man das Thema selbst für so uninteressant hält, dass es selbst einen Kaffee einschlummern ließe. Nicht nur Nichtchristen. Selbst Gläubige scheinen mit dem Thema gewisse Probleme zu haben. Neulich habe ich mit einem Typen gesprochen, der nicht in der Pfingstkirche, sondern in der heutigen Equmenia-Kirche aufgewachsen ist. Er hat mir erzählt, wie er kürzlich seine Mutter im Pflegeheim besucht hat. Er sagte:

„Du Mama, in unserer Gemeinde wurde nie viel über Pfingsten gesprochen.“
„Nö.“ war die Antwort.
„Weißt du, warum?“
Ein Moment der Stille. Dann rief sie laut aus:
„Es ist so chaotisch mit dem Heiligen Geist!“

Es ist ein Chaos mit dem Heiligen Geist. Ja, vielleicht ist es das. Wie misst man auch, wie beschreibt man systematisch etwas wie, pardon, jemand wie den Heiligen Geist?!

Vielleicht ist die ganze Sache mit der Dreieinigkeit viel zu chaotisch für uns. Vater und Sohn und Heiliger Geist in einem monotheistischen Glauben, also dem Glauben an nur einen Gott. Ein Gott – aber drei Personen oder drei Aspekte, oder drei…, ja, was eigentlich?

Das ist ebenso unverständlich wie Quantenphysik für einen Dachs. Aber sollte der arme Dachs überhaupt in der Lage sein, Quantenphysik zu verstehen? Wenn selbst wir das alles nicht vollständig verstehen können, wie können wir dann jemals den Einen verstehen, der unzählige superkomplexe Systeme erdacht hat, ein geordnetes Ganzes, das diese Schöpfung zum Funktionieren bringt? Natürlich sollen und müssen wir versuchen, das alles zu verstehen, wir müssen forschen und herausfinden, wir müssen recherchieren und beschreiben, aber vielleicht dürfen wir über alledem vor allem Eines nicht vergessen: Zu staunen und überrascht zu sein. Große Augen machen, genau wie ein Kind.

Nennt Gott uns nicht seine Kinder?
Und hat Jesus nicht gesagt, dass jeder, der das Reich Gottes nicht wie ein Kind empfängt, niemals hineinkommen wird?

Kinder sind immer neugierig, wollen immer etwas lernen. Aber wenn sie etwas nicht verstehen, ist das auch kein Problem. Man macht einfach weiter und genießt das Leben trotzdem.

Vielleicht ist Pfingsten ein Tag, an dem wir vor allem staunen sollten. Der Tag, wo in Jerusalem vor 2000 Jahren der Heilige Geist ausgegossen wurde. Der chaotische, Heilige Geist.

Übrigens hat Jesus durchaus bestätigt, dass es mit diesem Geist etwas kompliziert werden kann. Er verglich ihn mit dem Wind. Auch ein bisschen chaotisch. Schwer vorherzusagen – es bläst wann und wie er will und so weiter.

Als jener Geist dann kam, war auch prompt das erste, das passierte, eine große Verwirrung. Der Geist verursacht Chaos. Ausgerechnet Chaos! Von allem, was hätte passieren können, herrscht ein einziges Durcheinander. Wir hätten selbstverständlich erwartet, dass, wenn Gott auftaucht, ja, dann wird endlich mal Ruhe und Ordnung einkehren! Stattdessen aber Unruhe und Unordnung in Jerusalem. Alle sind verwirrt. Ehrlich jetzt, genauso steht es da. Ich habe sicher schon einige Pfingstpredigten gehört, aber nicht viele Prediger das Durcheinander und die Verwirrung betonen hören, als der Geist auftauchte und plötzlich niemand kapierte, was hier gerade abging.

Aber vielleicht soll es ja genau so sein? Vielleicht ist genau das der Punkt?!

Vielleicht sollen wir, vielleicht müssen wir sogar etwas ratlos, verunsichert werden, wenn Gott auf der Weltbühne auftaucht, und zwar etwas konkreter und nachdrücklicher als in unseren gut geplanten Gottesdiensten mit ihren perfekten Ordnungen jeden Sonntag Punkt 10 Uhr? Vielleicht sollten wir einfach mit großen Augen und einem zwischen den Knien hängenden Kinn dastehen und staunen? Wenn auch etwas überwältigt?

Als Jesus noch durchs Land zog und tat, was er so tat, waren die Reaktionen ziemlich ähnlich. Viele waren sprachlos. Die Leute staunten über das, was er sagte. Manchmal von Furcht ergriffen. Einige haben ihn postwendend wieder weggeschickt (bitte mach dein Ding woanders – aber lass uns in Ruhe!). Damit wird es nicht mehr ganz so überraschend, wenn der Heilige Geist uns ähnlich überrascht. Es ist schließlich Jesu Stellvertreter – wie Jesus selbst gesagt hatte.

Gleichzeitig ist aber Folgendes sehr seltsam, wie ich finde: Alles, was diese chaotischen Reaktionen auslöst, die Verwirrung, die Angst und so weiter, sind doch eigentlich allesamt nur positive Dinge! Schauen wir doch mal hin:
Jesus z.B. heilt kranke Menschen. Oder er hilft Ausgegrenzten, ihre Rolle in der Gesellschaft wiederzuerlangen. Oder er wendet sich gegen ein korruptes und destruktives System. Alles sehr ehrenhaft und erwünscht!

Am Pfingsttag dann überwindet der Heilige Geist Sprachbarrieren, die Menschen trennen und so oft zu Missverständnissen, Konflikten, im schlimmsten Fall sogar zum Krieg führen. Aber jetzt verstehen sich die Leute. Jeder von uns weiß, wie bedeutsam es sein kann, wenn man sich plötzlich von jemandem verstanden fühlt. Plötzlich bist du nicht mehr allein! Erinnerst du dich, wie es war, als du dich in jemanden verliebt hast? Hier ist ein Mensch, der mich versteht! Sich verstanden zu fühlen ist vielleicht die entwaffnendste Form der Liebe. Man fühlt sich gehört, gesehen und geliebt. Man beginnt wieder zu existieren.

Es scheint fast so, als ob Gott durch alle diese gesammelten Taten, Ereignisse und Wunder veranschaulichen möchte, was wir Menschen am meisten brauchen, was unsere Seele wirklich begehrt:

  • Wir wollen eigentlich freie und gesunde Menschen sein.
  • Wir wollen aktive und respektierte Teilnehmer der Gesellschaft sein.
  • Wir wollen kreative Baumeister sein, die ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten, ihre Gaben nutzen, um einen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten.
  • Wir wollen einander verstehen – andere verstehen und uns selbst verständlich machen können.
  • Wir wollen vom Kollektiv in all seiner Vielfältigkeit in Wissen und Erfahrungen erwerben können – von unterschiedlichen Persönlichkeiten, Erfahrungen usw. wollen wir lernen können, ohne in destruktive und schmerzhafte Konfliktsituationen zu geraten.

Eigentlich geht es darum, dass wir unser Leben in Freiheit und mit Erfüllung und Sinn leben wollen.

Da ist ist doch sehr seltsam, dass, wenn uns uns genau das in der Realität angeboten wird, wenn wir es wirklich erleben dürfen, wenn wir es es in Echt erhalten, dann reagieren wir nicht mit Glückseligkeit und Dankbarkeit. Stattdessen befällt uns Angst und Unsicherheit.

Wie kann das denn sein?!

Einer, der den komplexen Zusammenhang zwischen Freiheit und Angst erforscht hat, ist Erich Fromm. In seinem Buch „Flucht vor der Freiheit“ beschreibt er die These, dass Freiheit zwar ein menschliches Grundbedürfnis ist, aber auch eine Quelle von Angst und Unsicherheit sein kann. Eine wichtige Schlussfolgerung des Buches ist, dass Einzelpersonen auf diese „Freiheitskrise“ z.B. mit der Suche nach autoritären Systemen reagieren können. Autoritäre Einschränkungen wie sie Diktatoren z.B. einem Volk aufzwingen, werden als sicherer, angenehmer erlebt als Freiheit, und als Gegenleistung für diese vermeintliche Sicherheit nimmt man gerne all die schrecklichen Eigenschaften in Kauf, die man in autoritären Regimen findet.

Fromms Buch wurde 1941 veröffentlicht und erklärt in gewisser Weise den Aufstieg der Nazis und den Zweiten Weltkrieg, wirft aber auch etwas Licht auf die seltsamen Reaktionen der Menschen auf die Wunder in der Bibel. Nicht zuletzt wird dadurch ein wenig klarer, warum in unseren heutigen recht freien Gesellschaften so viele auf rechtspopulistische Parteien und Politiker blicken.

Wenn die Erfahrung der Freiheit also Angst auslöst, dann könnte man das bekannte Zitat des Paulus aus 2 Kor 3,17, wo er schreibt:

„Wo der Geist des Herrn ist, ist Freiheit.“

also auch so interpretieren:

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist immer auch ein wenig Angst.“

Das erklärt vielleicht auch, warum das mit dem Heiligen Geist so chaotisch sind. Weil er uns Freiheit gibt.

Unter anderem die Freiheit, einander zu verstehen, auch wenn wir völlig unterschiedlich sind. Heutzutage gibt es vielleicht nicht mehr so ​​viele Sprachwunder, wir müssen wahrscheinlich einen Teil der Arbeit selbst erledigen und verschiedene Sprachen, Wörter, Laute und grammatikalische Regeln lernen, aber die Hauptbotschaft ist dieselbe: Es ist möglich, einander zu verstehen Es ist möglich, einander wertzuschätzen, auch wenn der andere für uns völlig unverständlich erscheint, es ist möglich, füreinander zu empfinden, auch wenn wir in völlig unterschiedlichen Kulturen oder Subkulturen zu Hause sind. Wir können und wir sollen einander Gedanken, Ideen und Gefühle ausdrücken.

Liebe und Geduld sind der Kitt, der alles zusammenhält und uns die Sicherheit gibt, die wir brauchen.

Natürlich kann es manchmal trotzdem etwas chaotisch wirken. Aber genau dieses Durcheinander nennt man Gemeinde. Gemeinde ist nichts anderes als Menscheneintopf – alles chaotisch zusammengeschmissen. Genau so war es an Pfingsten. Und Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche.

Die Tatsache, dass es der Kirche nicht immer gelang, die Freiheit zu wahren, die ihr gegeben wurde, sondern stattdessen immer neue Regeln, Verordnungen, Sündenkataloge und mehr erfand – wahrscheinlich, um mit der eigenen Angst und Unsicherheit umgehen zu können –, sollte uns nicht dazu verleiten, die pfingstliche Grundidee von Gemeinde aufzugeben. Ganz im Gegenteil! Wir können das besser hinkriegen! Mit Christus als Vorbild und mit dem Geist, der uns gegeben wurde, können wir uns für eine positive Freiheit einsetzen, die bedeutet, dass wir uns aktiv engagieren. Auch wenn wir alle gebrochen Menschen sind, uns als Außenseiter fühlen oder krank sind, können wir dennoch im chaotischen Geiste von Pfingsten eine neue Identität finden, Empathie füreinander und eine authentische Beziehung zu uns selbst, zu anderen und nicht zuletzt zu Gott entwickeln.

In der heutigen Welt, in der all dies als knappes Gut gilt, hat Pfingsten also alles, was es braucht, um wieder ein echter Hit zu werden.

Und vielleicht gelingt es uns, uns selbst und die Welt um uns herum erneut mit großen Augen zum Staunen zu bringen.

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