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Harte Bandagen

„Wie?! Etwa nur fettarme Milch?!“ entrüstete sich gestern die etwa 60 Jahre alte Frau, die ein Arbeitstrainingsprogramm für sozial schwache Frauen durchläuft. Als sie gar nicht mehr aufhören konnte, sich zu empören und aufzuregen, brachte Karen sie zur Ruhe, indem sie ihr das deutsche Sprichwort „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“ erklärte. Denn immerhin hatte eine große Molkerei eine ganze Palette Milch geschenkt, von der sich jeder so viel mitnehmen durfte, wie man tragen konnte. Kostenlose Milch. Aber eben „nur“ fettarme.

Dieser kleine Vorfall zeigt einen Trend: Je mehr wir bekommen, desto unzufriedener sind wir. „Jammern auf hohem Niveau“, sagt man im Deutschen, aber Jammern ist und bleibt auf jedem Level Lamentieren und Klagen, letztlich Undankbarkeit. Das unzufriedene Geplärre derer, die ihren ganzen Lebensunterhalt auf Staatskosten bestreiten, ist auf die Dauer anstrengend und man fragt sich, ob es uns allen nicht doch eine Spur zu gut geht.

Sozialsysteme sind gut, richtig und wichtig. Es waren Christen, die unsere europäischen Sozialsysteme aus Barmherzigkeit und Nächstenliebe erfunden und entwickelt haben. Doch christliche Werte in den Händen säkularer Besserwisser ist so ähnlich wie die Jonglierkegel des Straßenkünstlers in den Händen von Staatsbeamten: Sie tun nur so, als könnten sie damit umgehen.  Ausnahmen bestätigen die Regel.

Der Staat hat Gesetze, doch er kennt weder Liebe noch Gefühl. Sozialfürsorge ohne Liebe ist kein Kunststück, sondern ein trockenes Gebilde, das die Buchführung beherrscht, doch nicht die hohe Kunst des Menschen-in-die-Selbstständigkeit-führens. (Etwas, das Eltern mit ihren Kindern tun (sollten), weil sie sie lieben (sollten).)

Selbstständigkeit täte Not. Doch in unseren postmodernen Kulturen will niemand mehr selbstständig sein. Wohl will man selbst bestimmen können, aber ohne selbstständig sein zu müssen. Denn Selbstständigkeit erfordert Verantwortung. Verantwortung sollen aber gefälligst die anderen tragen. Dann hat man nämlich immer jemanden, auf den man’s schieben kann. Die Molkerei ist schuld, dass uns an diesem Wochende zu wenig Fett ins Haus kommt.

Das ist der Kern der Sache: Der Mensch ist ein grenzenloser, irrationaler Egoist. Unser ganzes Denken dreht sich um die Gravitation des Ichs. Im Laufe meiner immer noch äußerst begrenzten Lebenserfahrung glaube ich aber drei Lektionen gelernt zu haben. Erstens: Bei allen bewundernswerten Gutmenschen zeigen sich bei genauem Hinsehen dann doch viel zu viele egoistische Motive. Zweitens: Nur zwei Dinge haben die nötige Energie, uns aus dem Orbit des Ichs zu befreien: Der Heilige Geist und Zwang. Drittens: Keines der beiden reicht für sich alleine aus. Man muss im Heiligen Geist gezwungen werden.

Über Gutmenschen möchte ich hier keine Worte verlieren. Die sollen ihr Gutes tun und sich gut dabei fühlen.

Der Heilige Geist hätte natürlich die Kraft, es ganz alleine zu schaffen. Doch Er erinnert uns nur. Und wenn wir wollen, gibt Er uns die Kraft, es zu schaffen. Er zwingt uns aber nicht. Der Heilige Geist ist keine Gedankenfernsteuerung, die uns eine neue Richtung einprogrammiert. Und eigentlich wollen wir es auch gar nicht. Was wir Menschen wirklich wollen, ist egoistisch sein. Mal ehrlich jetzt. Hand auf’s Herz.

Deshalb müssen wir durch Umstände gewungen werden, sonst passiert nicht viel. Den ersten Christen in Jerusalem wurde gesagt: Geht aus der Stadt heraus! Doch sie gingen nicht. In Jerusalem war’s viel gemütlicher für’s Ego. Erst durch eine Verfolgung wurden sie gezwungen.

Wenn Leid und Zwang im Heiligen Geist erlebt wird, dann wachsen wir. Menschen, die im Heiligen Geist wirklich Schweres erlebt haben, haben das Zeug zu Vorbildern. Als mein Patenkind nach vier Jahren Kampf gegen den Krebs mit 18 zu Jesus gerufen wurde, war er zehnmal so reif, als die saure Vollmilchverlangerin es in 180 Lebensjahren je schaffen würde. Er hat diesen Weg aber nicht gewählt. Er wurde ihm bestimmt. Er hat hingegen gewählt, es im Geist zu akzeptieren und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Er war einer der demütigsten und gleichzeitig lebensfohesten Menschen, die ich je gekannt habe.

Der Autopilot unseres Egotrips hat einen Namen: Stolz. Volle Fahrt voraus in den Abgund – doch schuld sind immer die anderen. Es ist der widerspenstige Stolz auf die eigene Geschichte und die antiken Philosophen, der zur Zeit sogar ein ganzes Land (!) vorsätzlich in den Ruin peitscht – doch schuld sind immer die anderen, niemals die eigene Reformunwilligkeit.

Stolz ist hartnäckig. Stolz ist stur. Stolz ist zäh, störrig und trotzig. Stolz ist überzeugt, wir hätten ein Recht auf Wohlstand. Stolz macht uns zu unselbstständigen Motzköpfen. Stolz kann nur mit harten Bandagen bekämpft und geknackt werden. Manchmal muss man wirklich erst vor die Wand fahren, um den Stolz zu knacken.

Das muss der Grund sein, warum das Neue Testament so viel von Bedrängnis, Sorge, Trübsal oder Verfolgung spricht – lauter Dinge, die uns unmissverständlich versprochen sind: Gottes Sammlung harter Bandagen, mit denen er unseren Stolz besiegt. Was sich wie Knebelung anfühlt, ist in Wahrheit Therapie zur Freiheit. Stolze Menschen schwimmen immer mit dem Strom, freie Menschen wie man will, denn sie haben es gelernt, trotz Behinderung, Depression, Arbeitslosigkeit, Mobbing, Krebs oder knappen Kontostand frei zu sein. Wer in Unfreiheit nicht frei sein kann, ist auch in Freiheit unfrei.

Und überhaupt: Der Zeitpunkt, wo Gott alles neu machen wird, kommt erst noch. Bis dahin dürfen wir die Welt Dankbarkeit lehren für das bisschen, das wir haben. Wir können der Welt vormachen, dass es ok ist, nicht immer alles und sofort zu haben. Dass Grenzen gut sind. Wie man verantworlich lebt. Lamentieren über das Fehlende kann jeder, wirklich jeder. Dankbarkeit ist eine Ausnahme.

Und außerdem haben wir die einzigartige Möglichkeit, mit unserer authentischen Hoffnung anzustecken (so wir denn wirklich hoffen) – unsere Vorfreude auf das Land, wo wirklich alles neu ist, wo wirklich volle Freiheit herrscht, wo Milch und Honig fließt.

Bleibt nur die Frage offen, welchen Fettgehalt jene Milch wohl haben wird.

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Dieser Artikel sind Gedanken, die mir zu meiner heutigen Bibellese in 2Kor 1,1-11 kamen.

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