N.T. Wright ist einer meiner Favorittheologen: Biblisch, tief, verständlich, zeitgemäß. Schon vor acht Jahren (fast auf den Tag genau) gab er ein Interview, das heute nicht aktueller sein könnte. Ich halte seine Aussagen für so lesenswert, dass ich die Mitschrift für Euch übersetzt habe.
Von N.T. Wright, in einem Interview mit The Gospel Coalition am 19. November 2007
Mir scheint der Versuch, Glauben und öffentliches Leben trennen zu wollen nur als Methode zum Zeit gewinnen und Gras wachsen lassen – so verständlich das auch sein mag. Doch Zeit „gewinnen“ ist eine Lotterie – und der geforderte Einsatz kann schlimm und hoch sein.
Ein Beispiel: Die Türkei begegnet islamischen Fundamentalisten mit der Aussage: ”Nein, wir wollen eine säkulare Republik werden.” Und ehrlich gesagt, wenn ich zu wählen hätte zwischen einem Leben unter der Scharia oder einer säkularen Republik würde ich das Letztere vorziehen, vielen Dank auch.
Aber es war exakt dieselbe Entscheidung, die sich vielen Menschen in Europa im 18. Jahrhundert stellte nach all den Religionskriegen zwischen Lutheranern, Calvinisten, Katholiken und so weiter. Europäer haben sich ja gegenseitig reihenweise buchstäblich abgeschlachtet. Man mag einwenden ”Das waren ja auch politische Hintergründe und Religion war nur ein Vorwand, genau wie in Nordirland. Die ganze Sache mit Katholiken und Protestanten ist in Wahrheit doch nur eine soziologische, sozialkulturelle und wirtschaftliche Trennung mit religiösem Anstrich.” Aber: Die Religion hat es angestachelt, gehetzt, vorangetrieben. ”Du musst das machen, denn sie sind böse und verdorben, diese elenden Protestanten!” Siehst du? Es hat der Sache sehr gedient.
Wenn man sich das ansieht wird verständlich, warum man sagte: ”Jetzt packen wir Gott nach oben auf den Speicher! Religion wird zur Privatsache. Denn dann können wir die Welt hier unten viel vernünftiger gestalten, nicht wahr?” Ja klar! Das Problem ist nur, wenn man sich das allernächste ansieht, das geschieht: Die französische Revolution, wo Tausende von Säkularen durch ihre Gleichgesinnten getötet wurden, um die Bedeutung von Liberté, Égalité und Fraternité zu unterstreichen. Tut mir leid, aber ihr habt soeben eure eigene Theorie ad absurdum geführt.
Mit anderen Worten, Religion hat Tausende getötet – Säkularisierung Zehntausende! So sieht das aus. Denken wir nur an Gulag. Seht Euch das an! Das wurde nicht im Namen der Religion gemacht. Es geschah in Namen des Atheismus.
Also, Zeit gewinnen und bei Religion auf Pause drücken mag sich erstmal ganz gut anfühlen. Aber da stauen sich massenweise Probleme an, die dich früher oder später überschwemmen werden. Es ist ja schon oft genug passiert. Der 11. September ist ein bekanntes Symbol dafür. Dinge, die gemäß der Aufklärung niemals auf der öffentlichen Bühne hätten erscheinen dürfen – nämlich wie man Religion im öffentlichen Leben ausübt – kommen plötzlich auf uns zugerollt und überschwemmen uns gnadenlos.
Das Problem ist, dass wir im Westen so schrecklich unreif reagieren. Wir polarisieren zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus. Offenbar haben wir völlig vergessen, dass es viele weise Wege dazwischen gibt.
Die Hälfte des Mittelalters haben Christen, Juden und Muslime nebeneinander gelebt. Ja, es gab Spannungen, aber sie konnten gelöst werden. Es war nie einfach, doch es ist nicht unmöglich. Genau das müssen wir wieder erlernen. Vor allem müssen wir wieder entdecken, dass wir ”normale Liebesobjekte” [common objects of love] sind, wie Oliver Donovan es ausdrückt.
Die große Mehrheit des Muslime möchte in Frieden leben, möchte ihre Kinder in Sicherheit großziehen, möchten so anbeten, wie sie es gelernt haben und möchten ganz bestimmt keine Terroristen sein. Also bitte: Nicht alle Muslime so behandeln als seinen sie Al-Qaida [Anm.: heute wohl IS], eine schreckliche und boshafte Organisation. (Mir wurde vorgeworfen, ich ginge nicht hart genug mit Al-Qaida ins Gericht – also bitte, liebe Leute, haltet mal den Rand!) Die Muslime, die ich kenne sind nicht so. Sie sind entsetzt darüber. Aber sie mögen sagen: ”Ich fürchte, die Aktionen des Westens im Mittleren Osten war die beste Rekrutierungsmethode für Al-Qaida [oder IS], die man sich je denken konnte.”
Ja, wir müssen klarmachen, dass Diskussionen darüber, ob Jesus der Sohn Gottes ist oder nicht keine Diskussionen über Einwanderungspolitik sind. Und zu sagen, jemand darf nicht in unserer Stadt leben, weil er Muslim ist, ist unfassbar, weil das Evangelium von der Wiederherstellung der ganzen Welt handelt. Wir müssen also lokal, national und global handeln, um Beziehungen, Vertrauen und gegenseitigen Respekt aufzubauen.
Das heißt nicht, wir sollten nicht evangelisieren. Paradoxerweise zeigt aber gerade die Anerkennung und Achtung anderer Kulturen, dass wir Menschen wertschätzen, und durch eben diesen Respekt erhalten wir Aufmerksamkeit und das Recht, gehört zu werden. Wer nicht respektiert, wird nie gehört werden.
Die Originalmitschrift dieses Interviews findet sich hier.