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Es ist nicht nur Antisemitismus

Vorgestern sah ich eine deutsche Kurzdoku über das offene Feiern der Hamasanhänger auf deutschen Straßen. Im Film kamen auch Integrationsbeauftragte zu Wort, die über dieses Verhalten wenig überrascht waren, weil sie schon lange einen tiefsitzenden und wachsenden Antisemitismus beobachten, vor dem man – so sagte man kopfschüttelnd – aber in Politik und Gesellschaft geflissentlich den Kopf in den Sand stecke. Mich macht das alles sehr traurig. Und nachdenklich. Organisationen wie die Hamas oder ganze Länder wie der Iran haben die Auslöschung Israels zum erklärten Ziel. Auch davor stecken viele Köpfe des Westens im Sand. Dennoch glaube ich nicht, dass Antisemitismus das eigentliche Problem ist. Mit dem Holocaust wurde es vielleicht nur zum prominentesten Symptom einer noch viel größeren Misere.

Im Sudan setzt sich bis zu diesem Augenblick die Verfolgung von Volksgruppen fort, die seit 2003 viele Hunderttausend Todesopfer gefordert hat.

Russland ist der Meinung, der Ukraine das Existenzrecht absprechen zu können und mit vollem Recht auf Zivilisten schießen zu dürfen.

Auf dem Balkan bahnt sich gerade ein neuer Ausbruch eines alten Konflikts an, der schon zu vielen Kriegen und ethnischen Gräueltaten geführt hat.

1994 wurden innerhalb weniger Monate 800.000 Menschen in Ruanda ermordet.

In Kambodscha fielen in den 1970-er Jahren vermutlich 1,7 Millionen Menschenleben der Herrschaft der Roten Khmer zum Opfer.

Zwischen 1915 und 1923 wurden etwa 1,5 Millionen Menschen der armenischen Bevölkerung durch systematische Verfolgung im Osmanischen Reich ermordet.

Sucht man nach Synonymen für Völkermord, findet man auch den Begriff „ethnische Säuberung“ , was bezeichnend ist: Der Andere wird als Schmutz, als Bazille oder Krankheit betrachtet, die unbedingt entfernt werden muss. Die Nazis sprachen offen von Rassenhygiene. Erst wenn der Andere weg ist, sind auch die Probleme weg, so geht die Logik. Sie geht sogar noch weiter: In Folge sieht man sich selbst als Wohltäter. Man hilft ja, das Übel zu eliminieren. Schließlich tut man damit der ganzen Welt einen Gefallen, was beim Blutvergießen sicher gut für das eigene Gewissen sein muss. Altruistisches Menschenschlachten.

Wer meint, das alles sei doch immer noch weit weg oder schon längst Geschichte, ist wohl von gestern. Die Philosophie des karitativen Killens quillt wieder, auch bei uns, auch im Westen. Man denke nur an den Sturm auf das Kapitol im Januar 2021. Man nahm die Auslöschung von Menschenleben nicht nur in Kauf, mit dem Ruf „Hängt Mike Pence!“ wurde sogar offen dazu aufgefordert. Auch in Europa nimmt der offene Hass auf Politiker und Entscheidungsträger tragisch zu. Gelbwesten in Frankreich, Drohbriefe, Fackelmärsche. Walter Lübcke kostete sein Engagement für Flüchtlinge das Leben – erschossen im eigenen Garten. Wie kann das sein?

Der Philosoph, Theologe und ehemalige britische Großrabbiner Jonathan Sacks beschreibt dieses schaurige Phänomen als krankhaften Dualismus. Der Mensch habe schon immer Probleme gehabt, mit der gleichzeitigen Existenz von Gut und Böse klarzukommen, schreibt er in seinem Buch Not in God’s Name (Nicht im Namen Gottes). Die Einsicht aber oder die Vorstellung, dass das Böse auch in mir existiert, ist schier unerträglich. Also reagiert man mit einem Trick, genannt Spaltung, einem psychologischen Abwehrmechanismus, der alles Gute auf die eine Seite, alles Böse auf die andere sortiert. Zwei solcher gegensätzlichen Pole kennzeichnen im Grunde jede Form des Dualismus. Er macht unser komplexes Leben einfacher, erklärbarer und damit erträglicher.

Die Aussage, der Gott des Alten Testaments sei kriegerisch und rachsüchtig, der Gott des neuen Testaments hingegen lieb und barmherzig, ist eine der populärsten Formen des Dualismus, auch bekannt als Markionismus, benannt nach ihrem berühmten Vertreter Marcion. Marcion (ca. 75-160 n.Chr.) hielt den monotheistischen Anspruch, dass Gott sowohl Vater als auch Richter ist, einfach nicht aus. Also spaltete er ihn in zwei Götter, einen bösen und einen guten. Diese Lehre kam schon sehr früh auf, und die Kirche hat sich ebenso früh dagegen gestellt.

Dualismus gibt es aber in unzähligen weiteren Formen, und eine davon kennen wir alle noch vom Schulhof, wo es manchmal ein Wir und ein Die gab – die von der neunten, die vom anderen Schwerpunkt, die aus dem anderen Gebäude. Wir waren wir, und die da waren einfach anders. So zu denken ist ebenso normal wie das nächste psychologische Phänomen, das hier schnell eintreten kann: Projektion. Um unsere Selbstachtung und die Ehre des Wirs zu wahren, projizieren wir alles Schlechte auf die anderen. Wir sind gut, die da nicht so. Wir sind unschuldig. Die sind schuldig. Das führt zu Konkurrenzdenken und Konflikten. Zu meinen Schulzeiten gab es zwar regelmäßig Schlägereien auf dem Schulhof, aber niemals Mord und Totschlag, nicht mal ansatzweise. Genau das scheint sich aber gerade zu ändern. Wie kann das sein?

Nun, sobald die Anderen oder auch der oder die Andere nach einer Weile nicht mehr nur noch anders sind, sondern plötzlich als Feinde identifiziert werden, dann passiert etwas in unserem Reptiliengehirn, auch bekannt als Amygdala: Sie analysiert Gefahr und aktiviert die Verteidigung. Das ist ein ebenso primitiver wie dominanter Prozess, der oft auf die Kosten der guten Moral geht. Doch einen Menschen mit gutem Gewissen zu töten, das geht nicht mal eben so, dazu braucht es mehr. Der Mensch hat viele Sperren in sich, die ihn daran hindern, einen anderen Mensch zu töten, d.h. wirklich, bewusst und gezielt abzudrücken. Selbst Soldaten schießen lieber daneben, das haben mehrere Studien gezeigt. Der Hass, der zum Tötungswunsch führt, entwickelt sich in Schritten.

Als erstes ist da die sprachliche Entwürdigung des Anderen. Das nannten auch die oben genannten Integrationsbeauftragten: In der heutigen Jugendsprache habe sich ein starker Antisemitismus etabliert. Über Juden spräche man nur noch in Schimpfworten. Die Nazis haben genau das bis zum Exzess getrieben und Juden mit allen möglichen Worten aus der Tierwelt oder Krankheitslehre betitelt – nur nicht als Mensch. „Die Entmenschlichung ist das Vorspiel zum Völkermord“, schreibt Jonathan Sacks.

Als zweites muss man sich selbst glaubhaft in einer Opferolle sehen. Sacks zitiert Vamik Volkan, wonach Dualisten gerne paradoxe Gefühle kombinieren: Einerseits sehen wir uns als die Herrscher des Universums, andererseits als Sklaven des Teufels. Die Anderen haben angeblich große Macht über uns. Sie zerstören unser Leben, unsere Sicherheit, sie trinken das Blut unserer Kinder und so weiter. Die sind Schuld. Irgendwann an allem, was gerade so schiefläuft. Mit dieser Logik entledigt man sich der eigenen Verantwortung. Das Opfer, das die Verantwortung für die eigene Misere auf den Anderen legen will, macht sich damit unfähig, das Problem selbst zu lösen. Das Problem an sich ist natürlich völlig real: Arbeitslosigkeit, Krankheit oder schwache Finanzen. Doch es lässt sich ja nicht lösen, solange die Anderen noch Macht über uns haben. Die haben uns das schließlich eingebrockt. Hier ahnt man schon den Teufelskreis: Wenn nämlich die Hexe schuld an der Krankheit ist, muss man natürlich die Hexe töten. Doch – oh weh! – die Krankheit wütet trotzdem weiter. Also muss es noch mehr Hexen geben, die unbedingt auch wegmüssen. Lässt man sich einmal auf die Opferolle ein, wird sie uns immer tiefer sinken lassen und uns schließlich darin festbetonieren.

Sobald der Andere kein Mensch mehr ist, sondern ein Dämon und wir uns als unschuldige Opfer sehen, folgt der dritte Schritt der grausamen Logik: Wir müssen uns organisieren, um der Welt und uns selbst etwas Gutes zu tun. Wir werden mit gutem Gewissen zu karitativen Killern. Der nächste Völkermord wird möglich. Nicht selten motivieren und rechtfertigen wir dann unsere Pläne und Handlungen mit unseren religiösen Werten und Überzeugungen.

Es ist nicht die Religion, die Gewalt hervorruft. Es ist Gewalt, die Religion hervorruft.

Jonathan Sacks

Das ist genau das, was mir gerade Angst macht: Dieser schleichende Prozess, der eine andere Überzeugung, eine andere Kultur oder ein anderes Weltbild erst zu Geringschätzigkeit des Anderen führen lässt, dann zu Ablehnung, dann Verachtung und schließlich alles in blanken Hass umschlagen lässt. Ein Hass, den die Täter Fahnen schwenkend und mit stolz geschwellter Brust zur Schau tragen, als wäre man eine geniale Koryphäe, ein Großmeister der Wohltat in blutgetränkter Metzgerschürze. Ist es das, was Jesaja im 5. Kapitel meinte, als er schrieb „Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die Finsternis als Licht bezeichnen und Licht als Finsternis, die Saures für süß erklären und Süßes für sauer“?!

Unsere primitiven Amygdalas scheinen gerade überall sehr aktiv zu sein. Überall wittert man den Feind. In den USA, übrigens schon lange ein Testballon, wenn man wissen will, wohin der Wind auch in Europa bald wehen wird, ist das politische Zweiparteiensystem prädestiniert für die dualistische Polarisierung. Lange war das gar kein Problem, Republikaner folgten respektvoll ihren demokratischen Präsidenten und umgekehrt. Doch seit 2016 ändert sich der Wind. Heute klingt alles ganz anders. Heute soll gehängt werden, wer gegen uns ist. Heute meint das Wir immer die Guten und das Die immer die Bösen. Der Dualismus ist auf dem Weg, zur pandemischen Krankheit zu werden.

Denn mit dem Wind ändert sich auch die Wortwahl. Vorwürfe, Anklagen, Beschimpfungen. Selbst in der Politik reiten immer mehr hart an der Grenze zur Beleidigung. Seit Jahren wird die öffentliche Diffamierung immer „normaler“, als müsse endlich mal jemand aussprechen, was angeblich sowieso jeder denkt (tut es das?!). Langsam aber sicher wird der Andere entmenschlicht, heute schon. Das Gift der Halbwahrheiten breitet sich aus. Wer uns nicht zustimmt und nicht für uns ist, muss automatisch gegen uns sein. Wird damit zum Feind. Heute begehen immer mehr Schüler Grausamkeiten, die vor fünf Jahren noch so gut wie undenkbar waren. Gestern Abend wurden zwei Schweden in Belgien erschossen, nur, weil sie Schweden waren, auf dem Weg zum Fußballspiel und ein schwedisches T-Shirt trugen. Wir wissen noch zu wenig über den Fall, außer, dass der Täter sich zum IS bekannt haben soll. Es wäre also nicht auszuschließen, dass er der Meinung war, Schweden seien sowieso keine Menschen, weil hier Koranverbrennungen passiert sind, und er Gott und der Welt einen Dienst erwiesen hat, der Lohn und Ehre verdient.

Ja, ich habe Angst. Ich habe Angst um alle, die mir lieb und wichtig sind. Angst, dass dieser Trend, wenn er sich weiter so schnell entwickelt, viele Freiheiten einkassiert, die uns heute selbstverständlich sind. Angst, dass unsere globale Unreife, die sich in all diesen aggressiven Konflikten manifestiert, die Klimakrise wieder einmal nur zur Nebensache werden lässt und nicht nur das, sie sogar ankurbelt. Denn jede Explosion, jeder Panzer oder Kampfjet befeuert auch die Klimaveränderung, und sie wird, wenn sie bald ausgewachsen sein wird, mit ihrem Leid sämtliche Kriege zusammen in den Schatten stellen.

Nein, ich habe keine Angst davor, selbst getroffen zu werden. Es ist immer noch viel wahrscheinlicher, von einem Bus als der Kugel eines Verführten getroffen zu werden. Nein, ich auch habe keine Angst vor einem angeblichen Antichrist, auch wenn ich mich seit neuestem immer wieder mal vergewissern muss, ob ich nun gerade die Zeitung oder die Bibel mit Jesu Reden über die Zeichen der Zeit lese.

Ich habe aber Angst vor dem Geist des Antichrist, jenem Geist, der Menschen nicht als Gottes Ebenbild betrachtet, sondern als Viecher, als Ebenbilder des Biests. Ein Geist, der längst nicht „alles glaubt“, wie die Liebe laut 1. Korinther 13, sondern leugnet und alles und jeden kritisiert. Ein Geist der nicht liebt, sondern hasst. Man höre nur mal aufmerksam manchen Politikern zu. Man lese nur mal die Kommentarspalten zu den einschlägigen Themen. Ich spüre des Geist des Antichrists heutzutage täglich.

Ich hielte es für naiv und leichtsinnig, den Kopf in den Sand zu stecken und zu behaupten, ich hätte keine Angst. Denn die Neigung, meine eigenen dunklen Seiten nicht zugeben zu wollen und sie stattdessen auf andere, die Putins, Hisbollahs oder Gestapos dieser Welt, zu projizieren, damit ich mich besser fühlen kann, die steckt auch in mir. Doch was mache ich dann? Ich zelebriere meine Hilflosigkeit, zementiere meine Opferrolle und lasse mich vom Geist des Antichrists einlullen.

Deshalb muss Bekenntnis und Beichte Teil meiner regelmäßigen Praktiken werden, wie David zu beten „erforsche mich, Gott, erkenne mein Herz und wie ich’s meine“ um das Erkannte in täglichen Seelenduschen wegzuspülen, damit es sich nicht einnistet und ausbreitet.

Aber auch Strategien des Lichts, um in zehn, fünfzehn Jahren nicht erdrückt zu werden, wenn alle diese Entwicklungen in dieser hohen Geschwindigkeit fortsetzen. Es wird sich nicht vermeiden lassen, zusehen zu müssen, wie immer mehr sich von the dark side rekrutieren lassen – bewusst oder schleichend. Diese Enttäuschungen brauchen Zeit zum Lüften und Raum zur Bearbeitung, und sie brauchen authentische Lebensfreude als Gegengewicht. An diesen Zeiten, Räumen und Gegengewichten muss ich arbeiten.

Nicht zuletzt brauche ich Mut. Mut zum Handeln, Mut zum Protest, Mut zum In-Frage-stellen. Mut ist ein Risiko, gerade deshalb ist es Mut. Doch im Gegensatz zum Leichtsinn weiß der Mut, was er tut. Deshalb will ich meine Ängste als Rohstoff zur Züchtung von Tapferkeit und Zivilcourage benutzen. Will gar nicht erst in die Opferrolle rein, denn sie ist die wahre, große Misere, die uns Menschen zu jammernden Monstern macht. Denn wenn hier jemand das große Opfer des menschlichen Dilemmas ist, dann ganz sicher nicht wir, dann ist es Jesus. Und der bete selbst am Kreuz: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

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