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Selig sind die Trauernden*

… denn sie sollen getröstet werden.

„Liebe und Trauer sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer trauert, beweist, dass er geliebt hat. Wer liebt, weiß, dass er trauern wird, weil uns alles, das wir lieben, genommen werden kann und irgendwann genommen werden wird.“

Francis Weller

Queen Elizabeth II drückte es 2001 ähnlich aus, als sie nach dem 11. September sagte: „Trauer ist der Preis, den wir für Liebe zahlen“. Deshalb ist es einerseits merkwürdig, andererseits folgerichtig, dass wir in unseren westlichen Gesellschaften immer stummer werden, wenn es um Trauer geht.

Merkwürdig, weil Liebe doch etwas Gutes, Wertvolles, Erstrebenswertes ist. Was wäre ein Leben ohne Liebe? Es wäre die Hölle, die ganz ohne Teufel, Feuer und Schwefel auskommt, weil wie die Abwesenheit des Lichts alles schwarz macht und die Abwesenheit der Wärme alles erfrieren lässt, so lässt die Abwesenheit der Liebe – was letztlich die Abwesenheit Gottes bedeutet – alle Schönheit und damit das menschliche Leben eingehen. Der Mensch ist kein Roboter, wir brauchen Liebe zum gesunden Leben, das belegen immer mehr Studien. Wenn Liebe also überlebenswichtig ist, warum können wir dann nicht mit der natürlichen Kehrseite der Liebe umgehen? Es ist, als bauten wir Häuser. Städte, ganze Landstriche ohne Bäder und Toiletten, weil wir einseitig, immer nur ans Essen und Trinken, an das Schöne denken. Wo sind die Räume, in denen wir unsere tägliche Seelenhygiene vornehmen können? Wo sind die Spiegel, die uns ehrlich zeigen, wie es aussieht? Die Becken, an denen wir uns erfrischen? Wohin können wir morgens als erstes gehen, wenn uns allein der Gedanke an den kommenden Tag beim Aufstehen erschöpft? Wie können wir die Seele abends vor dem Schlafengehen noch einmal erleichtern?

Trauer fällt in gleichem Maße an, wie wir lieben. Und das täglich. Liebe mag oft als etwas Leichtes empfunden werden. Trauer ist immer Gewicht. Sie wiegt schwer. Francis Weller schreibt in seinem Buch „The Wild Edge of Sorrow“ über die vielen Depressionen und psychischen Problemen in unserer Welt des Westens, doch er sagt, dass das meiste gar keine wirklichen Depressionen oder psychischen Krankheiten seien, sondern vor allem das enorme Gewicht der täglich angesammelten Trauer. Alle nichtwestlichen Kulturen hätten feste Trauerrituale, die den Trauernden helfen und damit dem ganzen Dorf oder der ganzen Gesellschaft dienen, so Weller. Doch weil Trauer im Westen zum Tabu wurde, haben wir verlernt, sie zu erkennen und zu benennen. In unserem Gemisch aus Verzweiflung und Unkenntnis geben wir ihr oft falsche Namen, wie etwa Burnout. Trauer ist aber längst nicht nur für Beerdigungen. Wir lieben ja auch unseren Körper und trauern, wenn etwas nicht mehr funktioniert. Wir lieben unsere Arbeit und möchten weinen, wenn sie nicht wird wie gewünscht oder ganz verloren geht. Wir lieben die Natur, ihre Zerstörung entmutigt. Wir lieben ein friedliches Leben, Mobbing, Kriege und Attentate betrüben enorm. Auf die Dauer wird der Seele unsre Trauer viel zu schwer. Sie erdrückt. „Wir dürfen uns nicht überwältigen lassen von dem Entsetzen und dem Schmerz, denn ich glaube nicht, dass es jemanden etwas bringt, wenn wir auf Zerstörung mit Selbstzerstörung antworten“ sagt Gabriele von Arnim, Autorin des Buches Der Trost der Schönheit. Doch genau das passiert: Unbewusste Selbstzerstörung, weil wir tonnenweise unverdaute Trauer mit uns schleifen. Wir leiden an kollektiver Seelenverstopfung. Oder, wie es der schwedische Autor und Journalist Niklas Ekdal in seinem Buch Hur vi levde (Wie wir lebten – die Göttliche Komödie Schwedens) ausdrückt: „Wäre der Westen eine Person, säße diese im Wartezimmer zur psychiatrischen Notaufnahme.“ Weil wir uns vor noch mehr Trauer schützen müssen, beginnen wir automatisch – wenn auch unterbewusst – weniger zu lieben.

Deshalb ist es in gewisser Weise folgerichtig, dass Trauer eine immer geringere Rolle in unseren Gesellschaften spielt. Wir werden oberflächlicher. Einsamer. Unsere Beziehungen kühlen ab, immer öfter sind wir uns im Westen nur noch selbst die Nächsten. Das Leben wird zur glitzernden Fassade, hinter der unsere Trauerberge langsam zu Bitterkeit verfaulen, die es uns noch schwerer machen, mit reinem Herzen zu lieben. Bitterkeit verknorpelt langsam zu Ablehnung, verknöchert weiter zur Aversion und versteinert schließlich zum Hass.

Selig ist, wer überhaupt noch trauern kann. Nur, wer sich mutig dem Ernst der Trauer stellt, wird wieder lieben lernen. Trauer ist eine ernste Sache, die wir nicht ernst genug nehmen, wenn sie unterdrückt, versteckt, überspielt wird. Ernst heißt gravis auf lateinisch, davon haben wir das Wort „Grab“ (englisch grave). Doch auch das schwedische Wort gravid. Gravid bedeutet aber schwanger. So merkwürdig es klingen mag, doch Trauer kann man tatsächlich mit Schwangerschaften vergleichen: Man nimmt sie respektvoll ernst, kann sie nicht beschleunigen. Es kann Komplikationen geben. Es wird Schmerzen geben. Doch am Ende wartet neues Leben. Ein großer Unterschied: Bei Schwangerschaften wissen wir exakt, was genau in welcher Woche passiert und wann sie vorbei sein wird. Trauer ist nicht so vorhersehbar. Deshalb fordert Trauer permanente Begleitung.

Wie die Liebe ist auch ihr Gegenstück Trauer beziehungsorientiert. Gewiss kann man alleine lieben, doch eigentlich geschieht Liebe in Beziehung zu anderen Menschen. Deshalb ist es elementar wichtig, dass Trauer grundsätzlich in Gemeinschaft geschieht: Der Verlust wird durch andere plötzlich Anwesende abgefedert. Genau das ist Trost: In seiner Trauer nicht allein sein zu müssen, eine Hand, eine Umarmung spüren, ein Wort hören, die Stille gemeinsam ertragen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Gemeinde spielt hier eine besondere Rolle, weil sie der physische Vertreter Jesu bis zu seiner Wiederkunft ist, ist es nirgendwo so wichtig, anwesend zu sein, wie in einem Trauerhaus. Wenn Jesus sagt: „… denn sie sollen getröstet werden“, spielt er zwar auf den ultimativen Trost bei der Erneuerung der Schöpfung an, aber auch hier gilt „wie im Himmel, so auf Erden“ – der himmlische Trost hat schon heute ein irdisches Vorspiel. Trost ist Verheißung und Aufgabe zugleich. Wir dürfen uns auf die Gegenwart des Auferstandenen in unseren schwersten Stunden verlassen, auf seine Anwesenheit, seinen Zuspruch, sein Verständnis als Trost empfangen. Und als Jesusnachfolger neu lernen, gute Stellvertreter zu sein, wenn andere durch Trauer gehen. Der Westen ist von Trauer überflutet, doch er findet keinen Trost. Wir könnten also Geschichte schreiben.


* Luther übersetzte diesen Vers mit „selig sind, die da Leid tragen“. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Das hier verwendete Verb πενθέω (pentheo) heißt eindeutig trauern, nicht Leid tragen. Auch wenn das Eine das Andere einschließt, so ist trauern doch eine konkrete Form des Leids – eine unvermeidbare und entscheidend wichtige, wie wir sahen.

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