Auf schwedisch versteht man unter einer „weißen Weihnacht“ nicht unbedingt dasselbe wie auf anderen Sprachen: Hier denkt man dabei auch an ein alkoholfreies Fest. Über das Alkoholfasten als eine durchaus christliche Tugend.
Auf meinem ersten Julbord, dem schwedischen Weihnachtsbuffet, gab es 2006 einen klaren Kulturzusammenprall. Alle Pastoren saßen dort mit ihrem Glas Wasser, Cola oder Limonade im Restaurant, in das wir eingeladen waren. Nur in meinem Glas thronte die stolze Krone eines Biers. Was viele Blicke und Kommentare erntete. Es war unmissverständlich: Schwedische Christen haben einen sehr viel strikteren Umgang mit Alkohol, als ich es gewohnt war. Für mich als Deutschen fühlte sich das von Anfang an etwas merkwürdig, vielleicht sogar amüsant an. Dort im Restaurant aber, wo ich mich unverhofft einer ganzen Gesellschaft reifer Leiter erklären musste, für die Alkohol bis heute alles andere als selbstverständlich ist, war es nicht mehr ganz so lustig.
Die Gründe sind historisch. Schweden war ein armes und gebeuteltes Land, das kollektiv in die Alkoholsucht rutschte. Der Schaden war enorm. Die Bevölkerung schrumpfte. Zwei historische Bewegungen halfen, das Land wieder zu heilen: Die freikirchliche Bewegung und die Abstinenzbewegung; beide gingen Hand in Hand. Niemand, so erklärte man mir, würde doch einen trockenen Alkoholiker wieder zum Trinken verführen wollen, deshalb sähen es die Nachfahren dieser Bewegungen, wie etwa jene Pastoren beim Julbord, ganz ähnlich: „Wir trinken nicht, weil unser ganzes Land die Folgen übermäßigen Konsums zu lange erlebt und zu lange darunter gelitten hat. Als Christen und Abstinenzler vertreten wir heute immer noch die Geschichte der Heilung unseres Landes“. Das leuchtete ein.
Was aber nicht heißt, dass es mir leicht gefallen wäre, diese Einsicht auch selbst zu leben. Schließlich war es nicht meine Geschichte. Ich gebe offen zu, wie überlegen ich mich als Deutscher in dieser Frage lange gefühlt habe. Ich konnte schließlich mit Alkohol umgehen, ich hatte eine Freiheit, die denen wohl fremd war. Lange dachte ich, ich könne Schweden doch beibringen, beim Thema Alkohol mal ein bisschen lockerer zu werden. Bis zur Pandemie lud ich z.B. jedes Jahr im Mai meine Theologiestudenten zum Grillen in den Garten ein und bot neben Wasser und Limo bewusst auch Folköl an, das ist Leichtbier mit 3,5%, das ich jedes Mal demonstrativ genoss. Ansonsten aber wurden die Dosen konsequent in der Kühlung ignoriert und blieben regelmäßig übrig. Trotzdem fühlte ich mich niemals, weder auf dem Julbord noch sonst irgendwann verurteilt von den Abstinenzlern meiner Gastgeberkultur. Das war bemerkenswert. „Ja klar, du bist halt Deutscher, trink du nur dein Bier!“ Manche fragten sehr interessiert nach der deutschen Alkoholkultur, besonders in christlichen Kreisen, oder sie erklärten fast schon entschuldigend, warum sie mein Folköl respektvoll und dankend ablehnten. Nie wurde auch nur ansatzweise moralisiert. Vielleicht, so begann ich irgendwann zu denken, haben uns die Schweden an diesem Punkt doch etwas voraus.
Natürlich war mir immer klar, dass Alkohol eigentlich nichts Gesundes ist. Es ist ein Gift, ein Nervengift, das den Körper schwächt, je mehr und länger man es zu sich nimmt. Deshalb entschied ich mich, während der Pandemie so gut wie keinen Alkohol zu trinken, um meinen Körper so abwehrstark wie möglich zu halten, solange es keine Impfungen oder Gegenmittel gab. Es wurde meine erste, wirklich lange alkoholfreie Fastenzeit (zu wenigen Ausnahmen habe ich mir allerdings ehrlicherweise ein Glas genehmigt). Covid bekam ich erst, als ich das Langzeitfasten gebrochen hatte und wieder regelmäßiger trank. Auch wenn hier vermutlich kein Zusammenhang besteht und ich mich sowieso angesteckt hätte, so war der psychologische Effekt enorm: Erst, als ich krank im Bett lag, fiel mir auf, wieviel besser ich mich fühle, wenn ich so gut wie gar nichts trinke. Besonders im Januar, wo die nordische Winterdepression gerne bei mir zuschlägt – also genau jetzt zur schreibenden Stunde. Alkohol gibt mir zwar für wenige Stunden die Illusion, es ginge mir besser – den Rest des Tages aber fühle ich mich psychisch sehr viel schlechter. Doch darauf war ich nur gekommen, weil mich Covid zum dauerhaften Alkoholfasten motiviert hatte, gestützt durch die vielen freundlichen Erfahrungen mit meinen schwedischen Freunden.
Mittlerweile sehe ich Vorteile.
Mittlerweile sehe ich sehr viele Vorteile im alkoholarmen Leben. Nein, ich lebe nicht abstinent und möchte es auch nicht werden, schließlich gibt es Momente des Glücks, der Würde, der Festlichkeit, die man gern feierlich genießen und mit der vergorenen Frucht des Weinstocks krönen möchte. Doch Alkohol soll eine Ausnahme bleiben, nicht die wöchentliche Regel. Vor 15 Jahren dachte ich großkotzig, ich sei freier als die anderen, weil ich trinken könne. Nun aber fühle ich mich wirklich freier als je zuvor! Der Schlaf wurde besser, das Leben ausgeglichener, und vieles mehr. Entsetzt bin ich nur darüber, wie lange es seit dem Julbord 2006 dauern musste, um dorthin zu kommen. Ich bin mir zwar sicher, nie so viel oder regelmäßig getrunken zu haben, um gefährdet gewesen zu sein. Dennoch fiel es mir so schwer, das Maß meines Konsums zu reduzieren. Was, zum Teufel, hat es so kompliziert gemacht?
Gewiss, Jesus machte Wasser zu Wein, und der soll sehr gut gewesen sein. Paulus empfahl Timotheus, „ein wenig Wein“ gegen seine Magenprobleme zu trinken. Wein wurde sogar fester Bestandteil eines der wichtigsten Sakramente, dem Abendmahl. Wein wird am Ende der Zeiten, beim großen, himmlischen Hochzeitsfest, serviert werden. Doch bis wir dort eingelassen werden, wäre es nicht viel besser, lieber bei der Zurückhaltung zu übertreiben als beim Konsum? Jesus selbst sagte, dass er bis zu seiner Wiederkunft abstinent leben würde. Fasten im Himmel, man stelle sich das mal vor. Er sagte, dass auch seine Jünger wieder fasten würden, wenn „der Bräutigam nicht mehr bei ihnen“ sei. Sollte das Fasten also nicht auch für uns viel normaler sein, als es in Wirklichkeit ist? Heute kommt es mir machmal vor, als sei’s mir persönlich wichtiger gewesen, meine „Freiheit in Christus“ durch regelmäßigen Konsum zu markieren, als meine geistlichen Muskeln durch regelmäßiges Training im Verzicht zu stärken, und ich weiß nicht recht, warum. Ist Selbstbeherrschung nicht eine Frucht des Geistes? Nennt die Bibel übermäßiges Trinken und Völlerei nicht eine Frucht des Fleisches? Werden wir in lutherischer Tradition zu sehr darauf getrimmt, tun zu können, was wir wollen, anstatt lassen zu können, was wir wollen?
Auf diese Spur brachte mich ausgerechnet ein Artikel der Süddeutschen Zeitung über den sogenannten Dry January, dem „trockenen Januar“, einer 2013 in Großbritannien gestarteten Aktion gegen Alkoholmissbrauch, die zum nachweihnachtlichen 31-tägigen Alkoholfasten im Januar aufruft. In jenem Artikel gab es sowohl eine befürwortende Pro-Stimme als auch eine kritische Kontra-Stimme. Die Pro-Version liest sich ähnlich wie dieser Blogpost, nur sehr viel besser und viel informativer. Die Kontra-Version liefert hingegen gar keine Argumente. Es ist nur eine schön verpackte „Ich will aber nicht!“-Antihaltung. Das muss es wohl sein. Man will sich halt einfach nichts vorschreiben lassen. So war es definitiv bei mir – ich wollte nicht, und meinen Unwillen konnte ich wunderbar fromm verpacken.
Anders als viele Schweden wurde ich halt in einem Lande sozialisiert, in dem Alkohol die große, bereits erwähnte Selbstverständlichkeit ist. Das fällt mir umso mehr auf, je länger ich die Welt aus skandinavischer Perspektive beobachte. Da wäre die sprachliche Verniedlichung vom „Bierchen“ oder „Gläschen“ Wein. Komasaufen wird unter Jüngeren wie eine Art Sport gehandelt, und wer es macht, hat es halt „mal richtig krachen lassen“. Überall und rund um die Uhr ist Alkohol erhältlich, selbst an Tankstellen, selbst schon für 16-Jährige. Bei jeder feierlichen Mahlzeit darf er nicht fehlen, auf jedem Fest wird erwartet, dass man ihn trinkt. Es nicht zu tun, kostet mehr Anstrengung in Form von Erklärungen oder Rechtfertigungen als das selbstverständlich angebotene „Gläschen“ einfach zu akzeptieren. Wer wegen Krankheit, Alkoholproblemen oder aus anderen Gründen nicht trinken kann, darf oder will, kann sich schnell als Außenseiter fühlen. Die einzige Ausnahme scheinen schwangere und stillende Frauen zu bilden. Das ist immerhin wohltuend.
Während der Pandemie wurde generell viel mehr Alkohol konsumiert, auch in Schweden. Jede Form von Schmerz, Frust und Trauer geht mit der Versuchung einher, sich betäuben zu wollen, und Alkohol scheint unser Aspirin für die Seele zu sein. Ganz Schweden kann davon ein Liedchen singen – aber eben auch von den Nebenwirkungen: vom Verfall einer ganzen Gesellschaft, der langfristig daherkommt und immer destruktiver wird, ein regelrechter Teufelssog, wenn keine wundersam heilenden Erweckungen im ganzen Lande eintreten sollten wie im schwedischen 19. und 20. Jahrhundert. Alkohol ist eben keine Medizin. Er ist und bleibt eine Droge, die – so hört und liest man immer wieder – kurzfristig schlecht schlafen lässt, mittelfristig dick und langfristig todkrank macht. Thrombosen, psychische oder Herz- Kreislaufprobleme, es ist längst nicht nur die Leber, die leise leidet. Mit zunehmenden Wetter- und Naturkatastrophen, mit anderem Stress im Beruf und aus den Nachrichten würde ein weiter steigender Alkoholkonsum kaum überraschen. Ein trockener Januar wäre daher eine gute Trainingseinheit, um sich mental und physisch auf die Zukunft vorzubereiten. Denn der Klimawandel wird kein 5-km-Lauf werden, kein Halbmarathon, noch nicht mal ein voller Marathon. Wenn wir Glück haben, wird’s nur ein Ironman. Das erfordert hartes Training, Krafttraining, Ausdauertraining, körperlich und mental. Nur, wer vorbereitet ist, wird an’s Ziel kommen. Niemand Gescheites nimmt eine Flasche Schnaps zur Stärkung auf einen Marathon mit.
Und sollte unseren jetzt lebenden Generationen tatsächlich die Ehre erwiesen werden, beim Ende dieses Zeitalters anwesend zu sein – von dem ich persönlich glaube, dass es die erlösende Wiederkunft unseres auferstandenen Herrn sein wird, was ich als Ehre betrachten würde -, dann habe ich auch eine relativ konkrete Vorstellung davon, wie ich an jenem Tage sein möchte: Gegenwärtig. Jesus nannte es wachsam, „seid wachsam!“ Ich möchte keinesfalls wie die beiden völlig desillusionierten und stark alkoholisierten Fernsehmoderatoren herumlungern, die am Ende des Films „Don’t look up!“ in einer verlassen Bar trinkend auf den nahen Aufprall des tödlichen Asteroiden warten und sich niedergeschlagen fragen: „Was sollen wir jetzt noch tun? Ficken?!“ Ich möchte eher wie William Wallace sein, der am Ende des Films „Brave Heart“ nach einem langen Kampf seiner Hinrichtung ins Auge schaut und die ihm angebotene Droge ablehnt, weil er mit all seinen Sinnen anwesend und gegenwärtig sein will. Und das heißt vor allem:
Nüchtern.