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Der Rat des Weisen

Gerne setze ich mich für ein besseres Verständnis der Bibel in modernen Zeiten ein. Kontextualisierung ist die spannende Kunst der Übertragung biblischer Inhalte von einem konkreten Zusammenhang in einen anderen. Doch mittlerweile sehe ich einen Fehler ein. Corona sei Dank. Und Aluhüten.

1Mein Sohn, wenn du meine Rede annimmst und meine Gebote behältst, 2sodass dein Ohr auf Weisheit achthat, und du dein Herz der Einsicht zuneigst, 3ja, wenn du nach Vernunft rufst und deine Stimme nach Einsicht erhebst, 4wenn du sie suchst wie Silber und nach ihr forschst wie nach Schätzen, 5dann wirst du die Furcht des HERRN verstehen und die Erkenntnis Gottes finden. 6Denn der HERR gibt Weisheit, und aus seinem Munde kommt Erkenntnis und Einsicht. 7Er lässt es den Aufrichtigen gelingen und beschirmt die Frommen. 8Er behütet, die recht tun, und bewahrt den Weg seiner Getreuen. 9Dann wirst du verstehen Gerechtigkeit und Recht und Frömmigkeit und jeden guten Weg.

aus Sprüche 2 (LUT)

Weisheit, Vernunft, Einsicht und Erkenntnis – das ist die eigentliche, geheime Endstation jedes irdisch gelebten Menschenlebens. Erst mit der Ehrfurcht vor Gott beginnen wir, den Kurs dorthin aufzunehmen. Wer andere Destinationen verfolgt, verpasst sein wahres Lebensziel. Das kann leicht passieren, weil geheime Reiseziele alles andere als gut ausgeschildert sind. Da geschieht es schnell, dass man sich mit der Strömung treiben lässt, ohne zu wissen, wohin das führen wird – außer am Ziel der Weisheit vorbei.

Als Christ ist man überzeugt, Weg, Wahrheit und Leben gefunden zu haben, den guten Hirt, der uns auf rechtem Pfad zu grünen Auen und lebendigem Wasser führt. Und da geht’s auch schon los. Nahezu 100% aller heutigen jungen Menschen in europäischen Städten haben noch nie einen Hirten gesehen. Geschweige denn einen guten. Noch weniger haben erlebt, was ein Hirt so alles tut. Grüne Auen, Stecken, Stab? Das könnte auch von Goethe oder Shakespeare stammen und klingt wahrscheinlich nur für Geschichtslehrer und andere Freaks verständlich.

Hier kommt also der Verkündiger ins Spiel (ein Wort, dass mein Textprogramm übrigens gerade als Rechtschreibfehler unterstreicht), oder der Missionar (kein Rechtschreibfehler), oder sagen wir einfach: der Übersetzer. Wie aber übersetzt man den guten Hirten in unsere Zeit? Was ist „Evangelium“ auf postmodernisch? Nun, diese Frage beschreibt ziemlich genau meinen Job.

Wie Luther habe ich versucht, nahe an den Menschen zu sein und dem Volk auf’s Maul zu schauen, um sowohl etwas Weisheit als auch das, was ich als freikirchlicher Christ als Evangelium auffasse, kontextualisiert an den Mann und an die Frau zu bringen. Und zwar so, dass es wirklich auch der Dümmste verstehen kann. Das ist viel Arbeit, aber nicht unmöglich. Doch genau hier liegt das Problem. Die Dümmsten wollen es ja gar nicht verstehen. Und stellt euch vor, es kommt noch schlimmer: Viele der Schlausten auch nicht!

Kontextualisierung ist sehr wichtig, keine Frage. Der Messias predigte auch nicht schwebend in Himmelszungen, sondern sprach die Landessprache, mit beiden Füßen auf dem Boden. Danach wurde das Neue Testament nicht im heiligen O-Ton Messias geschrieben, sondern gleich in einer damaligen Weltsprache veröffentlicht. Weil Kontextualisierung nicht die Botschaft selbst, sondern nur die Würze in der Botschaft ist. Doch die muss im richtigen Maß dosiert werden. Sonst kapiert’s am Ende noch jeder. So schien Jesus das zu sehen.


Ein Dummkopf bemüht sich erst gar nicht, etwas zu begreifen – er will bloß zu allem seine Meinung geben.

Sprüche 18:2 (HFA)

Aus diesem Grund liegt Weisheit nicht offen auf der Straße herum. Weisheit ist ein Schatz, und Schätze weiß man nur zu schätzen, wenn man lange, sehr lange nach ihnen gesucht und gegraben hat. Rückblickend kommen mir meine eigenen Übertragungsversuche manchmal wie ein schlechter Film vor (zu der Kategorie gehören leider auch viele christliche Filme): Man versucht zwar, modern und hip zu kommunizieren, die Produktion mag gut gelungen sein, doch die Story ist völlig flach. Wie Propaganda wird die Botschaft „in your face“ gebrüllt, alles wird überdeutlich, es bleibt nichts zum Entdecken. Die Bibel ist da ganz anders, ein Buch aus Geschichten und Schätzen, die erst gehoben werden wollen. Wir Evangelisten hingegen, wir haben nicht einfach nur auf die Gewässer hingewiesen, wo man nach Perlen tauchen kann. Wir haben sie alle selbst gehoben, aus der Schale geknackt, gereinigt und dann oft genug vor die Säue geworfen, obwohl es uns ausdrücklich nicht gestattet war. Jesus wusste, warum er es verbot. Es war der Rat eines Weisen.


Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit die sie nicht zertreten mit ihren Füßen und sich umwenden und euch zerreißen.

Matthäus 7,6 (LUT)

Denken wir weiter an Jesus, merken wir sofort, dass seine Botschaft für seine eigenen Zeitgenossen ein einziges Rätsel war. Ihm schien es mehr darum zu gehen, neugierig auf mehr zu machen, als sich anzubiedern und jedem die Welt zu erklären. Sein Rezept war Heil und Heilung, Liebe und Mut und jede Menge rätselhafte Ansprachen. Kein Mensch, noch nicht mal seine Jünger kapierten seine Geschichten. Johannes der Täufer, eigentlich ein echter Messiasexperte, war unsicher. Auf seine direkte Nachfrage erhält er eine indirekte Antwort. Am Ende ist Jesus relativ einsam gestorben. Wäre da nicht die Auferstehung, wäre seine Geschichte keine erfolgreiche. Doch am dritten Tag wird sie zum unerwartet verblüffenden Mysterium, in das man sich vertiefen muss, wie unter anderem Kolosser 1 vorschlägt. Vertiefen, das ist ein anderes Wort für graben, denn nur wer gräbt, wird den Silberschatz finden, wie Sprüche 2 verspricht. Ohne Schweiß und Schwielen geht es nicht.


Mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht und verstehen es nicht.

Matthäus 13,13

Jeder einzelne Stein muss gewendet werden, in allem und jedem können wir Erkenntnisse finden. Dieses Leben an sich ist schon chaotisch, voller Rätsel, Wendungen, Farben und Schattierungen. Das Leben, das Jesus anbietet, ist keinesfalls einfacher. Im Gegenteil! Die Weisheit, richtig damit umzugehen, findet nur, wer dauerhaft wagt, sich auf das Mysterium des Glaubens einzulassen.


Jesus verbot den Leuten, etwas davon weiterzusagen.

Markus 7,36

Kontextualisierung ist und bleibt extrem wichtig, doch es darf nicht dazu führen, dass alles vorgekaut wird. Damit verfälschen wir die Bibel, die uns harte Brocken zumutet. Wer das Evangelium viel zu simpel macht, züchtet sich eine Generation, die nur mit schwarz-weißen Erklärungen umgehen kann. Jede noch so schwierige Frage muss dann eine simple Antwort haben, sonst versteht man die Welt nicht mehr.


Der Kluge lernt aus allem und von jedem, der Normale aus seinen Erfahrungen und der Dumme weiß alles besser.

Sokrates
Anhängern von Verschwörungsgeschichten ist die Welt oft viel zu komplex. Auf der Suche nach einfachen Erklärungen „findet“ man einen Sündenbock, der verdeckte, böse Machenschaften treibt, und diese „Erkenntnis“ bietet eine mögliche „Lösung“ und damit etwas Hoffnung. Gemeinden stehen meines Erachtens in der Gefahr, Verschwörungserzählungen zu wenig entgegensetzen zu können, weil sie im Grunde ein Milieu der einfachen Erklärungen fördern.

Das alles ging mir aber erst so richtig auf, als ich sehen musste, wie viele Menschen sich heute mit primitiven Erklärungen für hochkomplexe Entwicklungen brüsten. Sie alle haben ein paar interessante, aber geheime „Schuldige“ für alle Probleme der Welt ausgemacht und diskutieren ebenso selbstgestrickte und merkwürdige „Lösungen“. Für solche Lösungen zu kämpfen, scheint eher das tiefe Bedürfnis nach etwas Hoffnung und Sicherheit zu befriedigen als ernsthafte Veränderung einer hochkomplexen Welt zu bewirken. Leider sehe ich eine Gefahr, dass Gemeinden das Prinzip der Vereinfachung eher fördern als verhindern. Wir glauben ja, alle Rätsel Jesu begriffen zu haben. Das Mysterium des Glaubens orientalischer Herkunft wurde in vielen Freikirchen durch ein modern sachlich richtiges, aber kunstlos simples Weltbild ersetzt. Wissen wurde uns wichtiger als Weisheit. Ehrlich gesagt spiegeln wir darin unseren Herrn nicht gerade wider.

Oh, Herr Jesus, ich hoffe, ich habe durch meine Evangelisationsmethoden nicht allzu sehr zur Dummbärtigkeit der Welt beigetragen. Vergib und hilf mir, in Zukunft mehr wie du zu sein. Lass mich geheimnisvoller, liebevoller, hoffnungsvoller werden.

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