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Vorausschauend fahren?

Mir kam es immer merkwürdig vor, wenn uns in der Fahrschule eingebläut wurde, „vorausschauend zu fahren“. Oder wenn mein Fahrlehrer mich ungewöhnlich lobte, weil ich erfolgreich über ein kompliziertes Autobahnkreuz navigiert hatte, das angeblich viel „vorausschauendes Fahren“ erfordert. Zwar war das Mitte der 1980-er Jahre, wo man noch als Fahrer das Ziel ganz ohne GPS finden musste. Trotzdem fand ich: Ist es nicht völlig normal, beim Fahren aufmerksam nach vorne zu schauen?

Scheinbar nicht, wie eine neue Autobahngeschichte uns diese Woche bewies. Beim Essen erzählte ich nämlich von der Sprengung der Autobahnbrücke bei Lüdenscheid, weil sie völlig marode und einsturzgefährdet war. Eine ungewöhnliche Geschichte, doch noch ungewöhnlicher ist, dass angeblich 400 weitere Autobahnbrücken Deutschlands in nicht viel besserem Zustand sind. In Deutschland, dem Land des Autos und seiner Bahnen?! Apropos Bahn, also Deutsche Bahn, um deren Infrastruktur scheint es ja auch nicht gerade gut bestellt zu sein. Doch kein Gleisbett, keine Autobahnbrücke erkrankt einfach so über Nacht so tödlich. Es ist eher der nagende Zahn der Zeit, und den kennen wir doch. Wer auch immer am Steuer der Instandhaltung sitzt, sollte doch wohl auch vorausschauend fahren! Warum scheint man dennoch tatenlos an jeder Abfahrt vorbeizurasen?

Theo Knoll, Journalist und ZDF-Kommentator, antwortete auf eine ähnliche Frage ganz trocken: „Tja, ich denke, Deutschland ist es wohl zu lange zu gut gegangen.“ Tja, ich denke, da hat er wohl recht. Als Ludwig Ehrhard sein „Wohlstand für alle“ veröffentlichte, war vielleicht keinem so recht bewusst, dass Wohlstand eigentlich auch eine Droge ist. Also mit Vorsicht zu genießen, sonst betäubt sie unsere Sinne. Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han beschreibt in seinem Buch „Palliativgesellschaft“, wie unsere modernen Gesellschaften Schmerz als etwas Sinnloses betrachten, das es um jeden Preis zu vermeiden gelte. Alles, was weh tut, müsse sofort weg oder zumindest betäubt werden. Deshalb, so Han, würde auch schon lange kein Politiker mehr wagen, einschneidende und damit blutig schmerzhafte, aber dringend nötige Entscheidungen zu treffen. Man will ja wiedergewählt werden. Damit ist man aber nicht besser als der Kiffer, der weiter kifft, der Trinker, der weiter trinkt oder der Raucher, der munter weiter raucht. Bis die Amputation ansteht. Oder die Sprengung maroder Brücken halt. Oder das Verbot von Gasheizungen.

Deutschland ist da keine Ausnahme. In Schweden hat man z.B. absichtlich vergessen, das EU-Arbeitszeitengesetz umzusetzen. Jetzt droht ein teures Gerichtsverfahren, Schweden muss eine Vollbremsung einlegen und alle Schichtarbeiter sind völlig aus dem Häuschen, weil ab Herbst kein Dienstplan mehr funktioniert, wie man es kannte. In Frankreich ist Macron der Bösewicht, weil er eine Rentenreform erzwingen muss, die schon vor 30 Jahren abzusehen war. In den USA möchten manche Politiker am liebsten sogar zum Geisterfahrer werden und nach quietschender Kehrtwende zurück in die berauschende Zeit des American 1970-er Dreams rasen. Das grundlegende Problem ist gar nicht das Problem selbst, sondern das viel zu späte Handeln. Man will, wie Han analysiert, viel zu lange bloß keinem wehtun. Bis man zum Knüppel greifen muss. Dann aber protestieren alle über den doofen Macron oder den unfähigen Habeck, weil man viel zu viel viel zu schnell bewältigen muss und völlig überfordert wird. Man hätte schon viel früher anfangen müssen, langsam zu üben. Kein Fahrlehrer fährt gleich am Anfang der ersten Fahrstunde über ein kompliziertes Autobahnkreuz.

Und wir Christen, das Salz der Erde? Vermutlich hätten Theo Knoll und Byung-Chan Han auch hier recht. Wir denken auch nicht immer viel weiter als von zehn Uhr sonntags bis zum Gottesdienstbeginn. Dabei ist die ganze Bibel ein Buch, das zum Vorausschauen anleitet. Von der ersten bis zur letzten Seite geht es darum, das Leben klug zu leben, an Gottes Weitblick teilzuhaben und dadurch Weisheit zu erwerben. Wir machen uns zwar gerne vor, Jesus als „Fahrlehrer“ neben uns zu haben, doch merken gar nicht richtig, wie uns die weichen Sitze, die perfekte Temperatur, der Sound der Musik und nicht zuletzt die verführerische Stimme des Navis einlullt.

Würden wir Jesus folgen, reisten wir nämlich zu Fuß. Bestenfalls auf einem Esel.

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