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(Ver-) Haften?

Dieser Tage leimen sich immer wieder junge Leute auf Straßen oder an öffentlichen Gegenständen fest. Die empörten Reaktionen darauf enthüllen, dass manch vermeintlich liberale Geist ebenfalls festzukleben scheint, allerdings an alten Vorstellungen. Mich erschreckt gerade als Christ, wie naiv und undifferenziert die öffentliche Diskussion über „die Klimakleber der Letzten Generation“ geführt wird.

Vor rund zwei Monaten klebten sich ein paar Umweltweltaktivisten auf einer Autobahn in Stockholm fest. Im sich darauf bildenden Stau steckte dann eine Ambulanz fest, und der darin transportierte Patient verstarb, wie es hieß. Wochen später ereignete sich ein ähnlicher Fall in Deutschland: Hier wurde allerdings zunächst eine Radfahrerin von einem Betongmischer (!) überrollt. Das Rettungsteam kam acht Minuten später als der Notarzt zum Unfallort. Wie man hört, lag auch das an einer Aktion festklebender Umweltaktivisten. Die Radfahrerin erlag ihren Verletzungen.

In Schweden wie in Deutschland hörte man in den folgenden, öffentlichen Debatten immer viel von der Schuld der Aktivisten am Tode der Unschuldigen. Ein härtestes Durchgreifen wird von der Justiz gefordert, man vergleicht die Aktivisten mit Terroristen, in Deutschland werden sie von manchen mit der RAF gleichgesetzt. Der Bundestag diskutierte und stimmte allen Ernstes über eine neue und schärfere Gesetzeslage eigens für die Klimakleber ab, die letztlich aber doch abgelehnt wurde.

Ich schaue mir das Geschehen an und bin nicht nur verblüfft, ich bin erschreckt darüber, wie viele Politiker und Medien gerade auf Stammtischniveau abstürzen. Kann man wirklich nicht mehr differenzieren? Oder will man es gar nicht versuchen? Wenn niemand mehr in der Lage ist, knifflige Fälle wie diese öffentlich und kompetent zu entschlüsseln, zu untersuchen, zumindest aber die Komplexität solcher Zwickmühlen zu erwähnen, dann glaubt am Ende noch jeder, dass Klimaaktivisten nichts im Kopf hätten, als Radfahrer und Herzpatienten vorsätzlich umzubringen. Wie in den üblichen Verschwörungsgeschichten hätte man wieder einen Sündenbock für alles gefunden.

Jeder tödliche Unfall ist tragisch und unendlich traurig. Alle müssen hart daran arbeiten, sämtliche Ursachen, die zum vorzeitigen und unnatürlichen Tode eines Menschen geführt haben, zu erkennen und aus dem Weg zu räumen, damit so etwas nicht wieder geschieht. Doch das ist Arbeit, kein Parolenröhren. Der Göteborger Autohersteller Volvo hat sich z.B. als einer der ersten auf die Fahnen geschrieben, die Zahl der Verkehrstoten durch sicherere Autos massiv zu senken. Die Eliminierung der unzähligen Ursachen war ein langer, teurer und hochkomplexer Prozess. Simple Verschwörungsgeschichten hätten hier nichts zur Sache getan. Bevor ich also auf „die Klimakleber“ als vermeintliche „Hauptursache“ der toten Radfahrerin und des toten Herzpatienten zu sprechen komme, möchte ich ein paar andere Todesursachen ansprechen, die ich im öffentlichen Stammtischgrölen vermisse.

Beide Ambulanzen waren also wegen Stau verspätet. Während in Deutschland „nur“ das zweite Rettungsteam mit angeblich acht Minuten verspätet war, steckte die schwedische Ambulanz im Stau fest. Da ging nichts vor und nichts zurück. Spätestens hier wäre die Frage nötig, warum bis heute noch kein Schwede von jenem Konzept gehört hat, das auf deutsch „Rettungsgasse“ genannt wird. Ist in Schweden völlig unbekannt. Warum? Weil man verkehrspolitisch und -kulturell in der Vergangenheit lebt. In den 1960-er Jahren war auf schwedischen Straßen so wenig Verkehr, dass eine Rettungsgasse schlichtweg lächerlich gewesen wäre. Heute sieht das ganz anders aus, besondern in Großstädten. Doch die Regierung hat verschlafen, die Regeln anzupassen. Wäre die Ambulanz mittels Rettungsgasse bis zum Hindernis vorgedrungen, hätte man leicht eine der verklebten Personen lösen können, die Ambulanz hätte weitergekonnt. Wer also trägt auch eine Teilschuld am Tode des Patienten? Genau die, die jetzt lautstark „härtere Gesetze“ entwerfen wollen. Klügere Gesetze wären meines Erachtens angebrachter.

In Deutschland sah die Lage anders aus. Dort wurde eine Radfahrerin von einem Betonmischer überrollt. Ich kenne den Unfallhergang nicht, vermute aber, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit beim Abbiegen des Lasters passiert ist. Es gehört in Deutschland zu den häufigsten, tödlichen Unfallursachen mit Fahrrädern. In Berlin bin ich selbst Zeuge einer solchen Situation geworden, und es ist schrecklich anzusehen. Spätestens hier wäre die Frage angebracht, was schwere Laster und Fahrräder eigentlich auf derselben Abbiegespur zu suchen haben. Wieso gibt es so gut wie keine separaten und baulich getrennten Fahrradstraßen? Die sind in Deutschland so unnormal wie Rettungsgassen in Schweden. Warum? Weil man auch hier verkehrspolitisch und -kulturell in der Vergangenheit lebt. In den 1960-er Jahren, als viele deutsche Städte geplant und weiterentwickelt wurden, betrachtete man Fahrräder als Kinderspielzeug und nicht als ernstes Verkehrsmittel. Nur Autos waren sexy und so galt das Motto: Allen Platz dem PKW! Heute gibt es zwar ein paar notdürftig aufgemalte Radwege, doch die werden nicht selten einfach zugeparkt. Hätte es aber ordentliche Radstraßen gegeben, wäre der Unfall nie passiert und die Frau noch am Leben. Wäre in Deutschland eine Radfahrer-Warneinrichtung für abbiegende LKWs vorgeschrieben (was technisch kein Problem ist), wäre das Risko erheblich reduziert. Leider gibt es weder genug ordentliche Radstraßen noch entsprechende LKW-Vorschriften. Wer also trägt auch eine sehr große Teilschuld an ihrem Tod? Dieselben Gesetzgeber, die jetzt härtete Gesetze für Klimakleber diskutieren.

Dann wäre da das Phänomen Stau. Wegen der Staus kamen die Ambulanzen nicht voran, und das ist laut Duden eine „Ansammlung von Fahrzeugen in einer langen Reihe“ – je größer die Ansammlung, desto länger die Reihe. Umgekehrt: Keine Ansammlung = kein Stau. Wären nur vier Autos unterwegs gewesen, hätten vielleicht sogar die Schweden eine Rettungsgasse hingekriegt. Zwar hätte sich dann vermutlich niemand auf den Teer geleimt, aber die vielen Autofahrer sind halt täglich zu erwarten und damit durchschaut. Einen Stau auszulösen, ist heutzutage ein Kinderspiel. Somit trifft auch jeden Autofahrer eine Teilschuld: Ohne sie wäre jede Ambulanz durchgekommen. Beim Thema Alkohol ist Schweden übrigens schon genauso rigoros und absolut gnadenlos: Du darfst zwar bis 0,2‰ im Blut fahren – aber wehe, du bist in einen Unfall verwickelt, und die Polizei macht einen Alkotest (was sie immer tut). Da reicht schon ein Kratzer im Lack, und sofort gilt 0,0‰ – hast du mehr als das im Blut, bist du immer schuld, und zwar auch, wenn du überhaupt gar nicht schuld warst: hättest du dich nämlich der Straße ferngehalten, wärst du schließlich gar nicht hier und folglich auch nicht beteiligt gewesen. Das mag schmerzhaft sein und ungerecht erscheinen, folgt aber der physikalisch-skrupellosen Formel Ekin = 1/2 ⋅ mv2, simpel ausgedrückt, Menschen in Autos sind immer gefährlicher als Menschen ohne Autos. Auch, wer sich nüchtern hinters Steuer setzt, unterschreibt automatisch das Kleingedruckte, nämlich fatale Dinge verursachen oder verschlimmern zu können. Staus und Tote inklusive. Das muss uns klar sein, bevor wir die Zündung betätigen.

Unsere Autolust führt mich näher zum Umweltschutz des 21. Jahrhunderts, der Ursache des Schlamassels. Wer heute immer noch die Klimakrise leugnet und damit die enorme Dringlichkeit der Gegenmaßnahmen (daher der von den Aktivisten gewählte Name Letzte Generation), leugnet wissenschaftlichen Konsens und steht auf wackeligen Füßen. Es ist sehr, sehr dringend, und es wird immer ernster. Falls wir uns nicht in wenigen Jahrzehnten in einer menschengemachten Apokalypse à la Offenbarung wiederfinden wollen, ist lasches Gerede und hemdsärmeliges Getue fehl am Platze. Doch leider sieht es gerade genau danach aus: 2022 wird wohl wieder ein Jahr mit noch einem neuen Rekord beim CO2-Ausstoß werden. Es ist ganz furchtbar, wie wenig in Wahrheit getan wird. Vogel-Strauß-Politik rettet uns nicht. Kann man die Verzweiflung der jüngeren Generation nicht verstehen? Warum reagiert die Öffentlichkeit mit Drohungen und moralisierenden Zeigefingern, warum so wenig Verständnis? Wenn wir warten wollen, bis auch der letzte einsehen wird, dass man vielleicht doch mehr gegen den Klimawandel hätte tun sollen, wird es viel zu spät sein – über dieses fatale Denkmuster schreibt die Bibel übrigens so einiges.

Hier hätte ich jetzt gerne einen kleinen Aufsatz über die Geschichte des Protests eingefügt, aber dieser Blogpost wird sowieso schon viel zu lang. Darin hätte ich erläutert, dass Protest nie angenehm ist, weder für die Protestierenden, (meistens machtlos), noch für die Machthaber, die plötzlich als gar nicht mehr so schlaue und großmütige Wohltäter öffentlich vorgeführt werden. In Ermangelung an besseren Argumenten fahren sie dann gerne ihre Waffen auf, gleichzeitig beschuldigt man die Protestierenden der Aggression – das ist so ein typisches Muster. Wir Christen stehen übrigens in einer bemerkenswerten Tradition des Protests. Deshalb hätte ich meinen Aufsatz bei Jesus angefangen, und mich über unsere Geschwister im Römerreich und den Protestanten bis in die Gegenwart vorgearbeitet. Aber belassen wir es bei der Zusammenfassung, dass Christen ihrem Herrn und Meister am ähnlichsten sind, wenn sie sich auf der Seite befinden, wo die dicken Steine hinfliegen, geworfen von denen, die klimatechnisch noch nie gesündigt haben.

Machthaber, ob sie nun Panzer fahren oder mit der kinetischen Energie eines SUVs auf Sitzblockaden zusteuern, wünschen sich grundsätzlich, dass Proteste nie größer und unangenehmer werden als ein Kindergeburtstag. Fridays for Future hielt man anfangs für so eine unreife Party von Blagen und Schulschwänzern, doch es wurden immer mehr, ihre Stimme immer lauter, ihre Argumente immer schwieriger zu überhören. Zum Glück kam Corona, und es wurde ruhiger ums Klima. Masken und Impfen waren natürlich sehr viel wichtigere Themen.

Doch nun sind alle back in Business. Wie vor der Pandemie schlagen die Treibhausgase wieder ihre jährlichen Rekorde vom Vorjahr. Der Trend geht stark nach oben. Die friedliche Fridays-for-Future-Bewegung hatte zwar Diskussionen und Bewusstsein geschaffen, doch keine Trendumkehr. Trotz aller Investitionen wird es summa summarum immer noch schlechter statt besser. Das 1,5°C-Ziel wird immer unerreichbarer, derzeit steuern wir ohne Übertreibung auf 4°C zu – eine unvorstellbare Katastrophe vom Ausmaß vieler Weltkriege gleichzeitig. Wer heute Kind ist, hat gute Chancen, live dabei sein zu dürfen. Was muss also noch geschehen, damit endlich was passiert? Ich kann den Frust der Klimakleber wirklich gut verstehen. Ich kann auch verstehen, dass sie in ihrem Eifer und ihrer Verzweiflung Aktionen starten, die manchmal unbedachte Konsequenzen hatten. Ich kann die Empörung der nächsten Angehörigen der Verstorbenen verstehen. Tote muss man immer verhindern, daran muss man hart arbeiten, damit der Protest an sich weitergehen kann, ohne das jemand stirbt. Protest muss aber immer stören und unbequem sein. Aktivisten einfach wegzusperren ist hingegen ein Zeichen von Kleingeist. Wer heute ernsthaft Gesetze schaffen will, die es leichter machen, Protestierende einfach einsperren zu können, gibt öffentlich zu, nicht in der Lage zu sein, die bereits bestehenden, demokratischen Gesetze sinnvoll anzuwenden. Das Ganze riecht nicht gut, und wir sollten es besser wissen. Ich wünsche mir Politiker und Medien, aber auch Gemeinden, die das differenzierter beleuchten.

Und ich wünsche mir eine Antwort auf die Frage, wann eigentlich die mal verhaftet werden, die zwar keine Ambulanzen aufhalten, und doch wissentlich in strahlend weißen Westen Millionen Tote verursachen. Vielleicht ist die fossile Industrie der größte Terrorismus von allem. Doch darüber sprechen wir ja nicht.

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