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Nationalstaat als Religionsersatz

Eine Welt ohne Gott findet immer ihre eigenen Alternativen. Eine davon ist unser heutiges System aus Nationalstaaten. Es trägt eindeutige Spuren der Zeit seiner Entstehung: Säkularisierung und Kolonialisierung.

Selten stellt man die Welt, in die man als Kind geboren wurde, in Frage. Im Gegenteil, sie ist so etwas wie der Normalzustand, mit dem später alles verglichen wird, ob bewusst oder (meistens wohl eher) unterbewusst. Wer zum Beispiel zweifelt schon die Staatsbürgerschaft an? Ist halt einfach so, dass manche eben diesen und andere jenen Pass haben. War doch schon immer so, oder? Nun, wenn „immer“ nicht mehr als die eigenen Generationen und vielleicht die der Ur-Urgroßeltern umfasst, dann vielleicht ja. Sonst nein. War nicht immer so.

Kurz gesagt, fing es mit der Aufklärung als Reaktion auf den 30-jährigen Krieg an. Man suchte nach besseren Alternativen für die Kirche, die durch die Spannungen der Reformation den verheerenden Krieg befeuert hatte. Immanuel Kant entwarf zum Beispiel ein säkulares Menschenbild im Gegensatz zum Abbild Gottes, nicht zuletzt in seinem wichtigen Werk Zum ewigen Frieden, das die Weltpolitik bis heute beeinflussen sollte. So entstand die Idee von größeren, kulturellen und politischen Einheiten, basierend auf gemeinsamen Sprachen und Werten. Die Französische Revolution propagierte die Idee von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, führte zur Abschaffung des Feudalsystems in Frankreich und einer deutlichen Entfremdung zwischen Staat und Kirche. Napoleon exportierte diese Ideen mit seiner Armee in die Welt und trug damit zur Auflösung alter Reiche und Monarchien in Europa bei, worauf in Folge immer mehr nationale Bewegungen entstanden. In Folge wurden im Wiener Kongress (1814-1815) schließlich völlig neue Grenzen gezogen und Staaten gegründet. Regionen wie Italien oder Deutschland brauchten etwas länger, weil sie in so viele Kleinstaaten, Reiche oder Herrschaftsbereiche zersplittert waren. Italien „einigte“ sich erst 1870, das deutsche Kaiserreich 1871.

Titelseite zu Kants einflussreichem Werk

Kaum gegründet, begannen die neuen Staaten nach Übersee zu expandieren. Unter dem Vorwand, „die armen Völker“ zu modernisieren und zivilisieren, versuchte man die eigene Stellung in der Welt strategisch zu stärken, Rohstoffe und andere Ressourcen zu suchen. Die Zeit des Imperialismus und Kolonialismus entwickelte sich in direkter Verbindung zur Bildung der Nationalstaaten. Während man sich auf heimatlichen Boden gerade erst von kirchlicher und feudaler Macht emanzipiert hatte, tat man als imperiale Herrscher leider und paradoxerweise genau das: Die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Menschen und Kulturen massiv unterdrücken. Das war ganz besonders tragisch. In den Kolonien war nicht viel mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Man zog Grenzen nach Gutdünken, ohne Respekt und Rücksichtnahme, pferchte Menschen in künstlichen Einheiten zusammen, die ganz und gar nicht ihren kulturellen Identitäten entsprachen. Diese Grenzen sollten später nach westlichem Vorbild ebenfalls „Nationalstaaten“ werden.

Diese Staaten der Welt haben sich auf diese Weise viel auf’s Auge drücken lassen müssen. Zwei eher unbedeutende, dafür aber anschauliche Beispiele wären, dass alle eine Nationalhymne brauchen, die möglichst nicht von europäischen zu unterscheiden ist – weder musikalisch noch inhaltlich. (Z.B. Bläser, Streicher, Paukenschlag: „blabla… Vaterland… blablabla… so schön… blabla… Ehre… blabla… ich… blabla… immer treu… blablablablabla“.) Oder eine „Nationalflagge“ – natürlich nur zu ähnlichen Bedingungen.

Was ist das denn?

Nein, das ist kein altes Fernsehtestbild. Es sind die Flaggen von
Mali, Rumänien, Guinea, Italien, Irland, Belgien, Frankreich, Elfenbeinküste und Tschad.
Aber nicht in dieser Reihenfolge und als Farbenblinder gesehen.
Bitte richtig zuordnen. Viel Erfolg!
(Übrigens wagt es von allen Ländern nur Nepal, sich flaggenmäßig eine Extrawurst zu braten.)

Der Nationalstaat wurde im Westen immer mehr zum Gottesersatz, der Friede auf Erden bringen möge. Man rief „Friede, Friede, ewiger Friede“ und wollte nicht hören, was Jeremia diesem Ausruf in Kapitel 6,14 noch hinzuzufügen hätte. Oder wie Jesaja derartige säkular-ewige-Friedens-Unterfangen in Kapitel 48,22 seines gleichnamigen Buches kommentiert. Da ja auch die Monarchie abgeschafft wurde, konnte Gott der Herr auch nicht mehr „König sein über alle Lande“ (Sacharia 14,9), bestenfalls noch ein kleines Herrlein im privaten Kämmerlein.

Ich bin für Frieden und für Demokratie, das möchte ich betonen. Ich bin auch nicht gegen den Nationalstaat oder eine Globalisierung, im Gegenteil: Große und globale Probleme wie etwa der eintretende Klimanotstand brauchen gemeinsames und globales Handeln. Ich möchte nur nicht, dass wir naiv sind und blind für die Kehrseiten gewisser Entwicklungen und wir den Verführungen des eigenen Normals auf den Leim gehen. Ich möchte, dass Gemeinde klug, weise und mutig ist und entsprechend agiert. Manchmal muss man auszoomen, um hinter die feinen Fassaden unseres modernen Lebens blicken zu können.

Ich möchte, dass Gemeinde klug, weise und mutig ist und entsprechend agiert.

Im Nationalstaat als Gottesersatz wurde die Flagge zum heiligen Gral. Deutschland mag vielleicht eine kleine Ausnahme sein, weil das Zeigen deutscher Flaggen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als unangebracht empfunden wurde, doch das Prinzip ist auch hier dasselbe. Bei der Bundeswehr musste ich 1988 meine Treue „geloben“, vor der Flagge, vor Regierungsvertretern und Nationalhymne. Da spielt es eigentlich keine so große Rolle mehr, ob man nun die erste oder dritte Strophe singt. Die Frage ist eher: wieviele Menschen wurden seit Erfindung des Nationalstaates weltweit in solch gottesdienstähnlichen Liturgien auf’s Heimatland eingeschworen?

„Ich gelobe Treue zur Flagge
der Vereinigten Staaten von Amerika
und zur Republik, für die sie steht,
einer Nation unter Gott, unteilbar,
mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle.“

US amerikanische Treueschwur (Pledge of Allegiance)

Wieviele haben seither ihr Leben für den neuen Vater geopfert – Vater Staat und Vaterland?! Wieviele haben der Liturgie des Krieges ihren vollen Glauben geschenkt? Sind für den „ewigen Frieden“ in den Kampf gezogen, haben ihre Familie alleingelassen, um sich für irgendeinen Hügel in der Welt erschießen zu lassen?

Richtig, historisch gesehen haben sich auch früher schon unterschiedliche Stämme oder Kulturen bekriegt. Kriege an sich sind nichts Neues. Doch müssen wir feststellen, dass Wehrpflicht und Weltkriege erst nach der Erfindung des Nationalstaates aufkamen. Weltkriege, die oft mit religiöser Sprache rekrutierten. Was für eine extreme Ernüchterung die beiden Weltkriege waren. was für eine Desillusionierung. Gemessen an den Opferzahlen kann man konstatieren, dass das ganze Konzept Immanuel Kants vollständig versagt hat. Geplatzt wie eine Seifenblase. Nix mit ewigem Frieden. Das Gegenteil war der Fall.

Auch Feudalismus und Kolonialismus leben unter neuen Namen weiter

Dass manche Länder „gleicher“ waren, wie George Orwell es to treffend in Animal Farm ausdrückte und es in den Kolonien mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nicht so genau genommen wurde, hatte ich schon erwähnt. Man wollte es zwar besser machen als die Kirche, doch deren Fehler hat man gerne übernommen. Kreuzzüge waren vielleicht schlecht, doch Kolonien sind gut, so schien man zu denken. Der einzige Unterschied war, dass einem niemand mehr Galater 3,28 vorhalten konnte (Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt eins in Christus), denn die Bibel hatte ja als Autorität ausgedient.

Als man Mitte des 20. Jahrhunderts begann, einsehen zu müssen, dass der Imperialismus vielleicht doch nicht die beste aller Ideen war, konnte man skrupellos ein anderes System ausnutzen, um die alten Muster nun unter politisch korrektem Namen doch noch so lange wie möglich weiterführen zu können. Nämlich als Staatsbürgerschaft. Das System der Nationalstaaten hatte ein cleveres Dokument erfunden: Den Pass. Er enthält viele Privilegien – oder eben auch nicht, je nach dem, welchen Pass man halt in der Lotterie des Lebens zugewiesen bekommt und welches Ranking dieser im internationalen Vergleich hat. Bist du Schwede, stehst du laut Passportindex auf dem zweiten Platz, also ganz, ganz weit oben. Weltenbürger erster Klasse sozusagen. Als Deutscher landet man derzeit auf dem dritten Platz. Auch ganz weit oben. Irak, Syren oder Afghanistan stehen ganz unten auf der Liste. Bürger letzter Klasse. Die ersten dürfen reisen, wie sie wollen. Die anderen eben nicht. Oder nur illegal in Schlauchbooten. Eine verbriefte Dominanz reicher Staaten, die obendrein eine willkommene Wiedereinführung und Fortsetzung eines noch älteren Systems ist, eins, dass selbst die Aufklärung schon abschaffen wollte, der Feudalismus. Wie Könige und Fürsten oder wie Knechte, Mägde und Sklaven, so vererben auch wir die Kaste, in die wir geboren wurden, an unsere Nachkommen weiter.

Die drei ersten und die letzten Plätze im derzeitigen Passportindex (2023)

Wenn der Nationalstaat heute einen Großteil der Rollen übernimmt, die früher der Glaube bzw. die Kirche bzw. Religion generell innehatten, dann ist das grundsätzlich nicht schlecht. Wir dürfen nur nicht meinen, ein säkularer Staat sei grundsätzlich besser als ein religiöser, ein weltlicher sei besser als ein christlicher. Wer z.B. seinen Glauben in Kants Ideen setzt, ist auch ein Gläubiger, selbst wenn das nicht so eindeutig als Religion identifiziert werden mag. Doch gerade dieser versteckte Glaube an irgendetwas darf nicht unterschätzt werden. Denn was wir glauben, steuert immer unser Leben, unsere Werte, unsere Handlungen. Wenn der Nationalstaat unsere Treue einfordert und sogar unser Leben auf’s Spiel setzen darf und dies mit Symbolen und Ritualen o.ä. untermauert, und wenn ein großer Teil des Volkes diesen Glauben teilt, dann kann die Frucht dessen eine übertriebene Identifizierung mit dem Nationalstaat und eben auch aggressive Verteidigung der eigenen Staatswürde zur Folge haben. Italien hatte ich oben schon erwähnt, das es sich erst nach vielen Jahren und letztlich doch nur durch kriegerisches Eingreifen einigen ließ. Nur kurze Zeit später wollte ein heute bekannter Politiker diesen italienischen Bund zementieren. Bund heißt auf italienisch fascio. Es war Benito Mussolini. Ihm verdanken wir das Wort Faschismus. Eine Folge der Erfindung des Nationalstaates? Wahrscheinlich ja. Wie es in Deutschland nach seiner Einigung 1871 weiterging, und der Faschismus auch hier Einzug hielt, wissen wir alle. Der Nationalstaat ist keine schlechte Sache an sich, aber er kann auch zum Dämon werden.

Wir sehen heute, wie immer lauter „mein Land First„, „make mein Land Great again„, Deutschland den Deutschen, Griechenland den Griechen, Schweden den Schweden usw. gerufen wird. Wir sehen eine gefährliche Radikalisierung an den Rändern der Gesellschaften. Der Nationalstaat ist nicht ganz unschuldig an diesen Phänomenen. Ein weiterer Verdächtiger ist eine andere Form der modernen Religionssubstitute: Liberalismus, dem ich zu späterem Zeitpunkt einen eigenen Artikel widmen werde. Wir haben als westliche Gesellschaft zwar den Glauben an Gott an den Nagel gehängt, doch die Konsequenzen unseres Glaubensersatz nicht bedacht, weil es uns nicht als Ersatzreligion bewusst war. Ebenso gedankenlos haben wir all die guten und heilenden Aspekte gelebter Religion über Bord geworfen. Das mag irgendwann oder langfristig über die Zeit ganz heftig nach hinten losgehen.

Gemeinde ist der Leib des Friedefürsts. Wir gehören einem Reich an, das an keine irdische Staatsbürgerschaft gekoppelt ist, einzig an die himmlische. Bleiben wir also klug und aufmerksam. Werden wir mutig als Friedensstifter zwischen den Kulturen. Lassen wir uns wachsam die Welt in Frage stellen, in die wir geboren wurden. Vergleichen wir diese Welt nie mit unseren eigenen Vorstellungen, die uns schnell einlullen, sondern nur mit der Bergpredigt, dem Manifest des globalen Gottesreiches. Sehen wir uns vor, nicht mit falschen Propheten im Chor zu brüllen.

Wenn wir etwas zerbrechen, dann das Brot. Wenn wir etwas vergießen, dann den Wein, und zwar in den Kelch der Einheit, wo die letzten die ersten sein werden. Und die ersten die letzten. Vergleiche dies als demütige Übung gerne mit dem Passportindex.

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